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Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)

Titel: Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Autoren: Jürgen Todenhöfer
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Falls wir schon geschlafen hatten, wurden wir schnell wieder angezogen. Es konnte ja sein, dass wir nach einem Angriff auf die Straße mussten. Hanau war bereits mehrfach bombardiert worden. Von den Amerikanern tagsüber, von den Engländern nachts. Ich war nach den nächtlichen Angriffen oft heimlich losgezogen, um die Umgebung zu erforschen und Granatsplitter zu sammeln. Das war meine Art, mit den Zerstörungen meiner Stadt umzugehen. Regelmäßig bekam ich dafür den Hintern versohlt.
    Krieg war für uns Kinder Alltag. Die heulenden Fliegeralarme, das Pfeifen und Krachen der Bomben, das Tackern der Flugabwehrgeschütze und auch der Tod. Fast jeden Abend hatte man über Hanau das Brummen eines einzelnen, angeblich englischen Flugzeugs gehört. Die Leute hatten es »Eiserner Gustav« genannt. Der »Eiserne Gustav« warf keine Bomben ab. Niemand wusste genau, was seine Aufgabe war, wenn er Hanau in großer Höhe überflog. Bis zum 19. März 1945.
    An diesem Tag steckt meine Mutter meine zwei Geschwister und mich früh ins Bett. Obwohl es keine besonderen Anzeichen eines Angriffs gibt, bleiben wir angezogen. Vielleicht hat meine Mutter eine Vorahnung. Gegen 4.30 Uhr morgens hören wir ein furchtbares Krachen und dumpfe, dröhnende Erschütterungen. »Flieger!«, schreien meine Mutter und meine Großmutter. »In den Keller mit euch!« Blitzschnell werden wir in unseren winzigen »Luftschutzkeller« gejagt. Ich nutze die panische Aufregung, um wie so oft auszubüxen. Ich muss sehen, was da draußen geschieht. So heftig hat es noch nie gedonnert und gekracht.
    Unser Haus liegt am Stadtrand neben großen Getreidefeldern. Von hier aus sehe ich das größte, schrecklichste Feuerwerk meines Lebens. Die Erde zittert und bebt. Glutrot brennt der Himmel. Heulend fliegt eine Fliegerstaffel nach der anderen ihre Angriffe. Berstend schlagen ihre Bomben in der Altstadt ein. Nur spärlich hört man dazwischen das Hämmern deutscher Flugabwehrgeschütze. Die Schüler, die die Flak bedienen sollen, sind von dem gespenstischen Angriff genauso überrascht worden wie alle anderen Hanauer.
    Ein verirrtes Geschoss schlägt 100 Meter von mir entfernt auf den Stoppelfeldern ein. Ich renne hin und finde in einem tiefen Erdtrichter einen noch warmen Granatsplitter.
    Dann laufe ich schnell wieder auf die Burgallee. Dort geschieht offenbar Wichtigeres. Ich werde diese Bilder nie vergessen. Es regnet Feuer. Höllische Mächte beherrschen den Himmel. Sie haben alle Schleusen geöffnet und schütten ihre Glut über meine Stadt. Ganz Hanau brennt.
    Wie Moskitoschwärme erscheinen am Himmel immer neue Fliegerverbände und werfen ihre Brand- und Sprengbomben in die sterbende Stadt. Ich sehe brennende Menschen, die sich auf die Straße und in die Gräben werfen, sich wälzen, um das Feuer zu ersticken. Doch der grünlich-klebrige Phosphor, den die Flugzeuge abwerfen, frisst sich unerbittlich in sie hinein. Brennenden Phosphor kann man nicht ersticken.
    Nach einer Viertelstunde endet das Pfeifen und Jaulen der Flugzeuge, das Explodieren und Bersten ihrer Bomben. Hanau ist vernichtet. In der Ferne vernehme ich verzweifeltes Weinen und Wimmern von Menschen.
    Meine Mutter scheint mich in der Nähe des Höllenspektakels zu vermuten. Immer wieder ruft sie laut weinend meinen Namen in die Nacht. Nie wieder in meinem Leben habe ich meine Mutter so verzweifelt schreien hören. Auf Zehenspitzen gehe ich in unser Haus zurück.
    Wie ich am nächsten Tag von meinem Großvater erfahre, haben die Flugzeuge der britischen Luftwaffe 90 Prozent der Hanauer Innenstadt zerstört. Über 2000 Menschen starben. Überwiegend Zivilisten. 1
    Mein Großvater war ein mittelgroßer, hagerer Mann. Er ist in dieser Nacht um Jahre gealtert. Wie viele Hanauer war er wenige Stunden nach dem Angriff in die Stadt gehastet, um zu helfen, zu lindern, zu trösten. Er schildert meiner Großmutter und meiner Mutter stockend das Elend, das Leid, den Jammer, den er im zerstörten Hanau gesehen hat.
    Er berichtet von Frauenleichen, die durch den »Phosphorteppich«, den die Piloten auf die Stadt gelegt hatten, bis auf die Hälfte ihrer Größe geschrumpft waren. Von verbrannten russischen Zwangsarbeitern, von zerstörten Lazaretten. Er erzählt von dem fast endlosen Zug ausgebombter, verrußter, zerlumpter Hanauer, die sich im Morgengrauen im Stadtteil Kesselstadt angestellt haben, um etwas zum Essen und Anziehen zu bekommen. Und um sich als »ausgebombt« registrieren zu lassen.
    Um Fassung
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