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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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I
    Es war ein herrlicher Tag – voller Sonne, mit einem wolkenlosen, mild blauen Himmel und von einer angenehm trockenen Kälte – dieser 15. Oktober des Jahres 1893. Es war ein Tag, an dem ein Petersburger, der selbstverständlich seine Stadt über alles liebt, mit einem dankbaren Blick zum Himmel sagt: »Gott, Du Allmächtiger, wir danken Dir, daß Du uns so segnest …«
    Schnee war schon vor zehn Tagen gefallen, zwar etwas früh in diesem Jahr, aber er beendete die Regenperiode mit ihren verschlammten Straßen, den ewig nassen Füßen, den triefenden Kleidern, die dann beim Trocknen im warmen Zimmer einen so widerlichen, ätzenden Geruch ausströmten.
    Die Bauern, die mit ihren hochrädrigen Karren in die Stadt kamen, sahen nicht mehr wie aus Lehm gebackene Gnome aus, wenn sie ihre Pferdchen abschirrten oder sich selbst aus den Zugleinen lösten.
    Die weiße Flockendecke verzauberte die Stadt und überstäubte sie mit Puderzucker. Noch war es nicht so kalt, daß die Newa, die Moika, die Fontanka und alle die vielen Kanäle St. Petersburgs zufroren. Blau wie der Himmel darüber leuchteten sie zwischen den Palästen und Häusern hervor. Wenn man wie ein Vögelchen hätte fliegen können – welch ein Traum, ihr Lieben! – so könnte man die herrliche Stadt jetzt von oben sehen. Man würde weinen vor Seligkeit, daß es soviel Schönheit auf Erden auf einem Fleck geben kann!
    Die breiten Prospekte, die Schlösser und Palais, die Wasserstraßen, die elegant geschwungenen Brücken, die Kuppeln und Türme der Kathedralen und Kirchen, die Inseln, die unendlichen Parks und endlich das schimmernde Meer – ein Gesang in allen Farben … Es war schon eine Gnade, in diesem St. Petersburg zu leben, auch wenn man sich die Hände blutig und den Rücken krumm arbeiten mußte, so man nicht zu den Hochwohlgeborenen zählte, die auf edlen Pferden oder in blitzenden Kaleschen durch die Straßen fuhren, und die man mit einer tiefen Verbeugung und gezogener Mütze grüßen durfte.
    In der Kaiserlichen Ballettschule herrschte an diesem Tag helle Aufregung. Ein Kurier vom Hofe hatte gemeldet, daß Besuch kommen würde – allerhöchster Besuch. Es sollte zwar eine Überraschung sein, aber die Hofbeamten hielten es für sicherer, vorher einige Warnungen auszugeben.
    »Er will es wie Harun al Raschid machen!« sagte wichtig der Kurier. »Plötzlich dastehen und sagen: ›So habe ich mir das gedacht! Nichts ist in Ordnung!‹ Und dann bekommt ihr rote Köpfe und habt Angst um eure Position!«
    »In meiner Schule ist immer alles in Ordnung!« sagte Tamara Jegorowna mit Stolz in der Stimme. »Ich leite seit neun Jahren das Kaiserliche Ballett – nicht eine Klage kam in dieser Zeit!« Sie wischte sich die Stirn ab.
    Aus dem großen Übungssaal klang gedämpft Klaviermusik: französische Etüden. Das Corps V – ihm gehörten Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren an – übte an der langen Stange vor der Spiegelwand. Die Kommandostimme einer Lehrerin zerhackte die Töne. Die Grundpositionen! Immer und immer wieder, monatelang, jahrelang, das Einmaleins der Tänzerinnen und Tänzer, bis jeder Ton in Bewegung umgesetzt werden kann.
    »Wer kommt?« fragte Tamara Jegorowna.
    »Nikolai Alexandrowitsch, der Zarewitsch …«
    Tamara Jegorowna war dafür berühmt, daß es kaum etwas auf Erden gab, was sie erschüttern konnte. Als sie vor neun Jahren aus dem Kaiserlichen Opernballett ausschied und mit der Leitung der Ballettschule beehrt wurde, flog ihr der Ruf voraus, eine Frau mit Nerven zu sein.
    Das war etwas Besonderes in einer Welt, wo gerade die hochgeborenen Dämchen ihre Migräne pflegten, sehr schnell in Ohnmacht fielen, mit geringfügigen, aber doch sehr attraktiven Krankheiten kokettierten und jedermann, der irgendwie mit Heilung zu tun hatte, sich goldene Nasen verdienen konnte. So wimmelte es in den Salons von Ärzten und Wundertätigen, von Scharlatanen und heilkundigen Wanderpredigern, die man Staretz nannte, von segnenden Mönchen und Heilkräuter kochenden Alchimisten, von Krankheitsbesprechern und den armen, bedauernswerten Epileptikern, die man ›heilige Idioten‹ nannte. Warf sie ein Anfall zu Boden, wälzten sie sich mit Schaum vor dem Mund, dann umringte man sie ehrfürchtig und erwartete von ihnen eine ›göttliche Strahlung‹, die alle Krankheiten wegbrannte und vertrieb.
    In dieser, merkwürdig von Gottesfurcht und Wunderglauben gemischten Welt, stand Tamara Jegorowna verhältnismäßig normal da. Sie wurde
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