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DU HÖRST VON MIR

DU HÖRST VON MIR

Titel: DU HÖRST VON MIR
Autoren: Luis Algorri
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es mir weh, wenn ich daran denke, wie bleich mein Vater war, als er, nachdem er des Nachts meine Schritte auf dem Korridor gehört hatte, an der Tür des Badezimmers rüttelte und mich mit blutenden Venen am linken Handgelenk und einem abwesenden Gesichtsausdruck herausschleifte. Er brauchte viele Monate, um zu verstehen, was mit mir los war, hatte mir aber gleich damals sofort verziehen. Wieder im Krankenhaus, wieder unter Medikamenten, wurde ich die Schlaflosigkeit nicht los, ebenso wenig wie das unerträgliche Gefühl von Einsamkeit, aus dem heraus meine Familie und meine Freunde sich gezwungen sahen, fast rund um die Uhr mit stoischer Geduld an meiner Seite zu verbringen.
    Dennoch wurden die Albträume Woche für Woche weniger, die nächtlichen Panikattacken seltener und vor allem ließ der Schwindel nach, der es mir nicht erlaubt hatte, mich einem Fenster auch nur zu nähern und auch diese unerträglichen Ängste vor dem Alleinsein. Die vielen Medikamente zeigten – langsam, wie alles in jenen Tagen – ihre Wirkung.
    Der Arzt entschied zu irgendeinem Zeitpunkt, dass – auch wenn es mir nicht gefiele – ich wieder raus auf die Straße müsste. Zunächst in Begleitung meiner Eltern oder irgendeines Freundes: nur kurze Spaziergänge, immer bei jemandem untergehakt, bis zur Kathedrale, um ein wenig dem Orgelspiel zu lauschen, oder bis zur Stierkampfarena und wieder zurück nach Hause. Dann, mit der Zeit, machte ich einige längere Ausflüge, auch mal aufs Land, Besuche bei Freunden, bei meiner Musiklehrerin, an der Uni. Ana hatte es übernommen, mich einzuschreiben, während sie dabei war, sich um ihre eigene Versetzung nach Salamanca zu bemühen. Ich weiß nicht mehr, ab wann wir nicht mehr zusammen waren, wenn wir überhaupt darüber jemals gesprochen haben. Ich erinnere mich, dass wir uns zunächst nur am Wochenende gesehen haben, dann nur noch ab und an, denn sie kam nicht jedes Wochenende aus Salamanca nach Hause. Irgendwann, es war schon richtig kalt draußen, erzählte mir jemand, dass er sie am Arm eines anderen gesehen habe. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte oder sagte. Ich erinnere mich aber auch an keinen Schmerz deswegen.
    Weihnachten stand vor der Tür, als sie mich endlich auch allein auf die Straße ließen. Ich wusste nicht einmal, wohin ich eigentlich gehen sollte, außer zum Psychologen jeden zweiten Tag, oder nachmittags zu meiner Lehrerin nach Hause. Dann am Dreikönigstag überraschte mich meine Mutter mit einem seltsamen, schweren Paket.
    »Wo du jetzt so ein blasses Gesicht hast, dass du aussiehst wie ein Schriftsteller aus der Romantik«, lachte sie, »habe ich dir das hier anfertigen lassen.«
    Ich war entsetzt. Es war ein schwarzer Umhang. Aber nicht der traditionelle spanische Umhang mit dem typischen Stehbündchen und dem rotem oder grünen Futter, sondern ein echter Priester-Umhang, der mir fast bis an die Knöchel reichte, mit schwarzem Seidenfutter und einer silbernen Spange.
    »Mami, willst du dich über mich lustig machen?«
    »Nein, überhaupt nicht«, lachte sie wieder, »an dem Tag, wo du den Mut hast, damit auf die Straße zu gehen, weiß ich, dass du wieder ganz gesund bist.«
    Sie gab mir einen Kuss und strubbelte mir durch die Haare, wie sie es immer gemacht hatte, als ich noch klein war. Mein Vater, der in einer Ecke des Flurs an der Wand lehnte und die Szene beobachtet hatte, lächelte zufrieden. Ich legte mir sofort diese Masse schwarzen Stoffes über die Schultern, schloss die silberne Spange und holte meinen rechten Arm aus diesen schwarzen Fluten hervor. Die Szene hatte etwas Komisches.
    »Na guck mal an«, sagte sie, »du siehst ja sogar richtig gut damit aus«, und machte eine Verbeugung. »Na bitte. Da brauchst du nur noch schwarze Anzughosen und spitze schwarze Schuhe, wie sie dein Vater zur Hochzeit getragen hat.«
    Ich ging mit Paco und Eduardo, den Brüdern von Ana und José, einen Wein trinken. Ich konnte wieder lächeln. Mir tat fast das Gesicht weh. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass ich lächelte.

    Es muss Ende Januar gewesen sein, in der letzten Januarwoche. Es war so gegen fünf Uhr nachmittags. Der Himmel war grau und der kalte, leichte Wind kündigte Schnee an. Ich ging zur Klavierstunde, was in Wirklichkeit das Geschenk meiner Eltern an mich zum Dreikönigstag war, in das ehemalige Haus meiner Großmutter, wo ich mir einen Schreibtisch, meine Bibliothek, den Computer und überhaupt meinen Arbeitsplatz eingerichtet hatte. Als ich aus der
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