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DU HÖRST VON MIR

DU HÖRST VON MIR

Titel: DU HÖRST VON MIR
Autoren: Luis Algorri
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an,
    »José, glaubst du wirklich, dass alles, was ich wollte, war, mit dir zu ficken?«
    Ich glaube, erst in diesem Moment, ins Halbdunkel gehüllt wie wir waren, sah er, dass mir die Tränen die Wangen herunterliefen. Er schwieg einen Augenblick, mit gesenktem Blick.
    »Na ja, ich weiß nicht.«
    »Ich glaube sehr wohl, dass du das weißt. Ich weiß nicht, was heute mit dir los ist, warum du mir das antust, warum du dich anstrengst, dich an nichts von gestern Nacht zu erinnern...«
    »Nein, darum geht es nicht ...«
    »... aber ich kenne dich, du bist mein Freund, du bist nicht so mies, dass du all die vielen Dinge vergessen hättest, die wir gemeinsam erlebt haben, seitdem wir uns kennen, José.
    Hasse mich, wenn du willst, mach mit mir, was du willst, aber versuche nicht, das, was wir immer gefühlt haben, zu verdrehen.«
    »Ich habe eine Sache gefühlt und du hast eine andere Sache geplant.«
    »Das ist eine verdammte Lüge.«
    »Nein, es ist die Wahrheit.«
    »Das ist eine ganz infame Lüge!«, schrie ich. »Ich war dein bester Freund, hast du gesagt; du könntest es nicht ertragen, dass ich wütend auf dich war, du hast mich in jener Nacht im Schwimmbad umarmt, wie mich zuvor noch jemand umarmt  hatte, du warst am anderen Tag so glücklich mit mir, als du aus deiner Lateinprüfung kamst, du liebtest mich gestern, José, du hast zumindest gesagt, du würdest mich lieben! Du hast mich dazu gebracht, dir zu zeigen, wie man küsst! Was du jetzt sagst, ist eine glatte Lüge!«
    Er blieb eine Weile still, mit gesenktem Blick.
    »Komm, schon, hör jetzt auf zu heulen.«
    »Ich kann nicht.«
    Ich glaubte zu spüren, wie er angerührt wurde, wie er sich zumindest beruhigte. Ich glaubte, ich würde anfangen, ihn wiederzuerkennen.
    »Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich.
    »Wann, jetzt?«
    »Ab jetzt, wenn wir wieder zurück sind.«
    »Ich habe keine Ahnung, woher soll ich das wissen«, log er,
    »aber ich glaube, es wird mir nicht so leicht fallen, dir das zu verzeihen.«
    »Ich habe dich nicht um Verzeihung gebeten«, stieß ich hervor, »und ich denke auch gar nicht daran, dich um Verzeihung zu bitten. Es gibt nichts, was du mir verzeihen müsstest.«
    »Und meine Schwester wohl auch nicht, was? Du betrügst sie und hast dir da wohl auch gar nichts vorzuwerfen, was?«
    »Ich habe deine Schwester nie belogen und dich auch nicht.
    Das wisst ihr alle beide sehr gut. Und ich werde dir sehr wohl das verzeihen, was du mir antust. Ich liebe dich zu sehr, ich kann nicht anders.«
    »O.k. Wie du willst.«
    Er drehte sich wieder mit Vehemenz um und löschte das Licht. »Und jetzt lass mich schlafen, ja?«
    »José, bitte...«, ich legte meine Hand auf den Teil des Schlafsackes, der seine Schulter schützte, ja panzerte.
    »Wir müssen früh aufstehen, schlaf jetzt endlich, verdammt noch mal.«
    »José... José, in Gottes Namen! José, bitte...«
    Er drehte sich um wie eine Furie: »Sag mal, merkst du nicht, dass ich nicht anders kann, dass ich nicht anders will?!
    Lass mich jetzt endlich in Ruhe!«
    Ich weiß nicht, wie lange ich so auf meinem Schlafsack gesessen hatte, bewegungsunfähig, orientierungslos, nur meinen rasenden Herzschlag hörte, nicht einmal Kraft zum Weinen hatte. Ich hoffte, etwas Licht zu sehen, in den dichten, dunklen Wolken, die sich in meinem Kopf drehten, die sich um mich herum weiter zusammenzogen. Dann überkam mich ein Gefühl von völliger Erschöpfung. Ich legte mich hin. Er schlief nicht.
    »José«, sagte ich ganz leise.
    »Was?«
    »Bis Morgen.«
    Es dauerte, bis er antwortete.
    »Adiós.«
    Ein kleiner Kuss, sanft auf meine Handfläche gesetzt, flog im Dunkeln hinüber zu ihm, bis in den Schlafsack, in dem er sich verschanzt hatte.
    »Ich liebe dich.«
    Es kam keine Antwort mehr. Die Nacht zog sich endgültig über mir zusammen.

    Wir saßen getrennt, tauschten kein einziges Wort während der gesamten Fahrt. Der Bus war völlig leer. José legte sich nach einer Stunde holperiger Fahrt auf die hinterste Sitzbank.
    So wie auf der Hinfahrt. Aber in den vier Tagen war eine Ewigkeit vergangen. Auf der Hinfahrt hatte er mit dem Kopf auf meinem Oberschenkel geschlafen. Jetzt versuchte ich, durch die brennenden Tränen hindurch die Landschaft zu sehen, ich hatte keine Kraft mehr. Allein die Vorstellung, mich von der Stelle, an der ich mich befand, wegbewegen zu müssen, ließ mich vor Angst schlottern.
    Als wir ankamen, war der Busbahnhof praktisch wie ausgestorben. Wir holten die Rucksäcke aus
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