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DU HÖRST VON MIR

DU HÖRST VON MIR

Titel: DU HÖRST VON MIR
Autoren: Luis Algorri
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dem Gepäckfach.
    »Wartest du eine Minute auf mich? Ich muss mal telefonieren«, richtete ich das erste Wort seit Stunden an ihn.
    »O.k., ich gehe schon mal raus.«
    Er drehte sich um und ging in Richtung Ausgang. Es sollte letzte Mal für viele Jahre sein, dass ich ihn sah.
    Ich ging zur Telefonzelle. Ana ging ans Telefon. Sie merkte sofort an meiner Stimme, dass etwas nicht stimmte.
    »Sag mal... was ist denn passiert?«
    »Nichts. Bist du zu Hause?«
    »Ja, klar.«
    »Gut. Wir kommen gleich.«
    »Hör mal, was ist denn los? Geht es dir gut?«
    »Nein, mir geht es nicht gut. Wer ist sonst noch bei euch zu Hause?«
    »Niemand. Meine Mutter arbeitet heute früh und alle anderen sind weg. Aber willst du mir nicht endlich sagen, was passiert ist?«
    »Gleich. Wir kommen erst mal zu dir.«
    Ich legte auf. Als ich zurück in die Halle kam, konnte ich José nirgends sehen. Er war gegangen. Ich nahm meinen Rucksack und ging nach Hause zu Ana. Ich fühlte mich völlig erschöpft, der Rucksack brach mir fast das Kreuz. Die vier Treppen bei Ana im Haus kamen mir endlos vor. Es war, als wäre ich in diesen vier Tagen um vierzig Jahre gealtert.
    Sie öffnete.
    »Aber Javier. Was ist denn mit euch los?«
    »Ist er hier?«
    »Er kam und hat sich gleich in sein Zimmer eingeschlossen.
    Er hat nicht einmal Hallo gesagt. Warte, ich sag ihm Bescheid.«
    »Nein!«, ich hielt sie am Arm fest. »Lass ihn, ruf ihn bloß nicht.«
    »Aber... würdest du mir jetzt vielleicht erklären, was passiert ist? Komm erst mal rein, in mein Zimmer, und nimm vor allem dieses Monstrum vom Rücken!«
    Das sieht ja aus wie ein Mausoleum, war das Erste, was ich dachte. Das Zimmer von Ana war bis zur Decke voll mit roten Rosen. Auf dem Nachttisch, auf dem Schreibtisch, über dem Kopfende des Bettes, auf dem Boden.
    »Die letzten kamen vor einer halben Stunde. Wir haben fast keine Vasen mehr im Haus«, lächelte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange.
    »Morgen kommen noch mehr. Ich hatte dir Rosen für fünf Tage bestellt.«
    Ich spürte, wie mir schwindelig wurde.
    »Komm, setz dich. Du bist ja ganz blass. Geht's dir gut?«
    Ich rührte mich nicht. Im Stehen, von da aus, wo ich stand, schaute ich die ganzen Rosen an, in allen Ecken, Rose für  Rose bis meine Augen sich mit Anas Blick trafen. Ich versuchte zu lächeln.
    »Danke«, sagte sie, »sie sind herrlich, Javi. Aber du bist ein bisschen übergeschnappt. Das ist doch nicht nötig. Es gibt Dinge, die verstehe ich auch, ohne dass mein Zimmer in die Garderobe der Caballe verwandelt wird, nicht? Und jetzt erzählst du mir alles. Und wo wir schon dabei sind, darüber zu sprechen, du weißt, ich liebe dich sehr, was auch immer geschehen sein mag, Javi. Komm, setz dich zu mir, komm.
    Ja, willst du mir denn nicht endlich sagen, wa... ? Javi! Javier!«
    Der erste Brechreiz ließ mich zusammenkrümmen; ich versuchte noch, die Zimmertür zu öffnen und zum Bad zu gelangen. An den zweiten Brechreiz erinnere ich mich nicht mehr.

    Es waren lange Monate. Aus dem Krankenhaus war ich zwar nach nicht einmal zwei Wochen wieder entlassen worden, aber die akute Blutzuckersenkung zog sich wegen der Anämie länger hin und verkomplizierte sich vor allem wegen der Depression. Meine Eltern und meine Brüder wichen nicht von meiner Seite. Ana verbrachte jede freie Minute bei mir, vor allem am Anfang; Dann, mit Semesterbeginn wurden ihre Besuche immer seltener, aber ich erinnere mich an fast nichts von alledem. Die nervösen Attacken, die mich vor allem nachts überkamen, mündeten in heftige Schreianfälle, während derer ich – wie mir mein Vater sehr viel später erzählte
    – unaufhörlich nach einem gewissen José verlangte und nach jedem erbarmungslos schlug, der sich mir nähern wollte. Die Anfälle wurden mit Beruhigungsmitteln bekämpft, die mich die meiste Zeit in einem lethargischen Zustand hielten. Es fiel mir schwer, Tageszeiten, Gesichter oder Worte zu unterscheiden, die ich sagte, oder die man an mich richtete. Jedwede Nahrung führte bei mir zu sofortigen Brechanfällen. Als ich –  im Rollstuhl – aus diesem blau-weißen Zimmer abgeholt wurde, war mir meine gesamte Kleidung viel zu groß geworden.
    Danach, zu Hause, verbrachte ich ganze Wochen im Sessel, schaute aus dem Fenster, las oder dämmerte vor mich hin. Ich sah, wie die Pappeln im Park langsam ihre Blätter verloren; ich sah, wie die Menschen auf der Straße wärmer angezogen waren; ich sah die ersten todtraurigen Herbstregen. Noch heute tut
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