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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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hin und berührte sein Gesicht. Er schloss die Augen und schmiegte seine Wange an ihre Handfläche. Ihr Halbbruder. Ihr Geliebter. Die Worte schossen wie Stromstöße durch ihren Kopf. Aber sie konnte nicht anders.
    »Damián«, sagte sie plötzlich. »Wer war in diesem Auto?«
    Sie flüsterte unwillkürlich, als gehörte sich die Frage nicht.
    Er öffnete die Augen und lächelte sie an. Bevor er noch etwas sagen konnte, presste sie ihre Lippen auf seinen Mund und küsste ihn stürmisch. Er erwiderte ihren Kuss und umarmte sie fester.
    »Ich weiß es nicht«, sagte er dann, als ihre Wange an seiner Schulter ruhte.
    »Der Mann war bereits vier Tage tot und lag seit zwei Nächten in benzingetränkte Tücher eingewickelt in einer Garage. Die Familie bekam dreitausend Dollar. Davon kann sie eine Weile leben.«
    Sie wollte sich aufrichten. Aber er zog sie nur noch fester an sich.
    »Die medizinische Fakultät zahlt erheblich weniger für eine Leiche«, fügte er hinzu. »Ich wäre anders nicht lebend aus Argentinien herausgekommen. Selbst jetzt ist es noch riskant. Aber wenn ich vorsichtig bin, wird man keinen Verdacht schöpfen und mich vergessen.«
    Giulietta sagte nichts. Sein Geruch. Die Wärme seines Körpers. Der Klang seiner Stimme. Sie spürte ein unbändiges Verlangen nach ihm. Aber das durfte doch nicht sein.
    »Hast du etwas Wasser hier?«, fragte sie unvermittelt.
    »Ja. Natürlich. Entschuldige, du musst ja völlig erschöpft sein. Ich hole sofort welches.«
    Doch bevor er sich umdrehen konnte, um in die Küche zu gehen, umarmte sie ihn wieder. Sie standen minutenlang bewegungslos da. Sie hatte zahllose Fragen. Aber die Antwort war immer die gleiche: er lebte. Nur das zählte. Sie hatten Zeit. Alles andere würde sich finden. Sie spürte seine Hände auf ihrem Rücken und schmiegte ihre Wange an seine Schulter. Sie schloss die Augen und lauschte seinem Atem, spürte seinen Herzschlag. Er strich über ihr Haar, streichelte ihre Wange und zog sie fester an sich. Die Musik endete. Das CD -Gerät schaltete sich mit einem kurzen Summen ab. Dann herrschte völlige Stille.

35
    N ach einer Weile löste er sich aus ihrer Umarmung, ging in die Küche und kehrte mit einer Flasche Wasser und einem Glas zurück. Giulietta hatte auf dem Sofa Platz genommen. Als er das Glas zu füllen begann, sagte sie: »Damián. Ich weiß alles.«
    Er schaute sie kurz an, erwiderte jedoch nichts.
    »Ich bin bei Kannenberg gewesen«, fuhr sie fort.
    Er ließ sich neben ihr auf der Couch nieder und reichte ihr das Glas. Dann streichelte er ihr Haar und flüsterte: »Du bist eine wundervolle Tänzerin, Juliana Echevery. Ich liebe dich.«
    Sie lächelte und hob das Glas an ihre Lippen. Während sie trank, begann er zu erzählen, stockend zunächst, doch dann wie von der Notwendigkeit getrieben, endlich alles loszuwerden, alles mit ihr zu teilen. Er rief ihr jenen Mittwochabend in Erinnerung, als er mit ihr bei ihren Eltern zum Abendessen eingeladen war und ihren Vater zum ersten Mal gesehen hatte. Wie oft hatte er sich diesen Moment vorgestellt, wenn er ihm endlich gegenüberstehen würde – dem Mann auf dem Foto; dem Mann, der seine Mutter verraten hatte. Jahrelang hatte er ihn gesucht. Doch dieser Teufel hatte einen Schutzengel namens Giulietta.
    »Nach jenem Essen war ich wie betäubt. Das Ungeheuer war dein Vater. Du und ich … Geschwister. Die Welt war völlig verrückt geworden. Was sollte das für einen Sinn haben? Danach war nichts mehr wie vorher. Ich hasste alles, was ich die letzten acht Jahre getan hatte, mich von einer Lüge zur nächsten zu hangeln. Aus Angst. Aus Feigheit. Alles kam mir plötzlich lächerlich vor. Mein Tango-Alphabet. Diese Tango-Welt, die nichts mit mir zu tun hatte, die ich mir übergestülpt hatte wie eine dritte Maske über die zweite. Doch das Schlimmste war … dass wir … ich meine … du und ich … das war unmöglich geworden. Ja, das war das Schlimmste. Das hatten mir meine Rachegelüste eingebracht. Es war nicht meine Schuld. Und dennoch fühlte ich mich schuldig. Ich verstehe es selbst nicht. Ich wollte es dir sagen, aber ich konnte nicht.
Er
sollte es tun. Wenigstens das. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte. Ich buchte meinen Flug auf das erstmögliche Datum nach der Aufführung um. Ich sagte Nieves, dass nach dieser Show endgültig Schluss sei. Sie ist völlig durchgedreht. Deshalb habe ich am Sonntag die Musik geändert. Ich wollte alles zerstören, was mich an diese
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