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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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der Familie Alsina nichts gewusst zu haben? Wenn man Markus sah, hatte man nicht den Eindruck, dass er jemals wieder jemandem schaden würde. Anita hatte große Mühe, kein Mitleid mit ihm zu empfinden. Seine Gesichtszüge hatten sich schlagartig verändert. Er sah krank aus. Seine Haltung wirkte künstlich, als müsse er sich die ganze Zeit gegen etwas stemmen. Er sprach kaum und trank viel. Als Anita erklärte, sie würde sich lieber eine Weile von ihm trennen, nahm er das kommentarlos hin. Wenige Tage später hatte er eine kleine Wohnung in Schöneberg gemietet und zog aus, während sie bei der Arbeit war. Das war drei Wochen her. Sie hatten zweimal telefoniert, das war alles.
    Anita stellte mit Staunen fest, dass er ihr nicht so sehr fehlte, wie sie vielleicht geglaubt hätte. Oder lag es daran, dass sie unter Giuliettas Abwesenheit so viel stärker litt? Ihre Familie war zerstört. Familie? Anita nahm die nächste Zigarette aus dem Päckchen. Sie waren nie eine Familie gewesen. Aber sie fühlte sich an dieser unheilvollen Symbiose zwischen Markus und Giulietta mit schuldig. Diese Entwicklung hatte an dem Tag begonnen, als Giulietta durchsetzte, die Ballett-Schule zu besuchen. Warum hatte sie sich dem Wunsch ihrer Tochter so lange widersetzt? Warum hatte sie ihr die ganzen Jahre den Tanz verleiden wollen? Anita begriff es selbst nicht. Sie hatte alles falsch gemacht.
    Sie schaute erneut aus dem Fenster. Es war längst dunkel. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, öffnete dann ihre Handtasche und holte das Päckchen heraus, das Konrad Loess ihr für Giulietta mitgegeben hatte. Konrad Loess. Giuliettas Onkel. Sie musste sich das manchmal leise vorsagen, um sich klar zu machen, dass all diese Veränderungen Wirklichkeit waren. Giulietta stand im Kontakt mit ihm und hatte ihm gesagt, dass sie nach Madrid fahren würde. Konrad Loess rief sie daraufhin im Krankenhaus an und bat darum, ihr etwas für Giulietta mitgeben zu dürfen. Es musste etwas sehr Wertvolles sein, denn er wollte es auf keinen Fall mit der Post schicken.
    Sie trafen sich am Vorabend ihrer Abreise in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße in einem Café. Auch hiervon sollte Markus nie etwas erfahren. Konrad Loess gab ihr eine kleine, dunkelblaue Pappschachtel, die er mit Watte ausgelegt hatte. Darin lag eine alte, offensichtlich sehr kostbare Taschenuhr. Er zeigte Anita, wie man sie öffnete, und ließ ein paar Takte der Musik spielen. Er habe sie reinigen lassen, sagte er, man könne jetzt auch die Inschrift auf dem Innendeckel wieder lesen. Giulietta solle die Uhr bekommen. Er sei so glücklich, eine Nichte zu haben, solch ein großartiges Mädchen. Sie habe ihm mit ihrem Besuch ein einmaliges Geschenk gemacht, das er erwidern wolle. Anita hatte ihn fasziniert angeschaut, nicht allein der großzügigen Geste wegen, sondern auf Grund seiner Ähnlichkeit mit Markus.
    Sie betrachtete die Uhr und musterte mit unverminderter Verwunderung den Schriftzug auf dem Zifferblatt.
Battin. Joaillier & Horloger. Lyon
. Dass Markus ausgerechnet diesen Namen gewählt hatte! Konrad Loess hatte gesagt, die Uhr habe nicht Markus gehört. Sein Vater sei der letzte Besitzer gewesen. Doch er hatte nicht mehr verfügt, wer sie nach seinem Tod bekommen sollte.
    Sie hielt das wertvolle Stück in der Hand, drehte und wendete es, bis der Lichteinfall es erlaubte, die geschnörkelte Gravur zu entziffern. Die Inschrift war lateinisch. Es war lange her, dass sie gelernt hatte, lateinische Sentenzen zu entschlüsseln. Aber sie konnte es noch.
    Sicut nubes. Quasi naves. Velut umbra.
    Wie die Wolken. Gleichsam Schiffe. Nur ein Schatten.
    Sie ließ den Deckel zuklappen und hielt die Uhr noch eine Weile in der rechten Hand, bevor sie sie in die Schachtel zurücklegte.
    Sie wurde erst wieder auf ihre Umgebung aufmerksam, als der Zug seine Geschwindigkeit drosselte und am Ende fast im Schritttempo durch die Außenbezirke von Madrid fuhr. Die meisten Fahrgäste holten bereits ihre Taschen und Koffer von den Ablagen herunter.
    Dann sah sie den hell erleuchteten Bahnsteig. Sie erhob sich, zog das Fenster herunter und lehnte sich hinaus. Die Luft war warm und roch unbeschreiblich fremd und angenehm. Der Zug rollte noch einige Meter und kam dann mit einem leichten Ruck zum Stehen. Anita ließ ihren Blick über den Bahnsteig wandern. Es dauerte eine Weile, aber dann entdeckte sie ein junges Paar, das Arm in Arm langsam am Zug entlangging und suchend in die Abteilfenster
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