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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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prallte hart mit ihm zusammen. Er musste direkt hinter der Tür gewartet haben. Sie schrie auf und wich vor ihm zurück. »Was willst du?«, schrie sie. »Was hast du hier verloren? Das ist meine Umkleide. Verstehst du? Raus hier!«
    Ihr Vater hob beschwichtigend beide Hände und kam langsam auf sie zu. »Giulietta, lass uns in aller Ruhe miteinander reden, du bist völlig durcheinander …«
    » ICH , ich bin überhaupt nicht durcheinander … nicht mehr!!« Sie verschluckte sich. Was war nur mit ihrem Gesicht los? Sie erhaschte in einem der Spiegel einen Blick auf sich. Ihre Augen waren verschmiert, die Schminke hoffnungslos zerlaufen. Ihr Hals zuckte. Vor Wut. Vor Verzweiflung.
    »… ich bin deine Tochter nicht mehr, verstehst du … du Lügner, du verfluchter Lügner … wo ist Damián … was hast du getan …« Weiter kam sie nicht. Gleich würde sie ersticken. Ihr Vater kam immer noch auf sie zu, aber langsamer, noch bedächtiger, als nähere er sich einem tollwütigen Haustier. »Giulietta, bleib ganz ruhig! Es gibt für alles eine Erklärung. Wir fahren jetzt erst einmal nach Hause, und dann reden wir über alles …«
    Sie starrte ihn an. Warum half ihr denn niemand? Wo waren denn die anderen? Sie blickte gehetzt um sich. Jemand hatte einen kleinen Blumenstrauß an ihrem Platz deponiert. Jasminblüten. Ein Briefumschlag war auch dabei. Lutz?, dachte sie überflüssigerweise.
    »Bleib stehen. Bleib, wo du bist«, sagte sie drohend.
    Er hielt inne. Die beiden Techniker waren an der Tür erschienen.
    »Jibt’s Probleme, Mädel?«, fragte der eine und war mit zwei Schritten neben ihrem Vater. »Wer sind ’n Sie? Wat machen Sie hier?«
    »Hören Sie, das ist meine Tochter, und ich habe …«
    »Bitte bringen Sie den Mann weg«, sagte Giulietta und ging zu ihrem Stuhl.
    Der andere Techniker baute sich vor Battin auf und versperrte ihm den Weg zu ihr.
    »Also, haste jehört. Autojrammstunde is erst morgen wieder. Jehn wa.«
    Battin lächelte. »Hören Sie, das ist ein Missverständnis. Das hier ist meine Tochter …«
    »Ja, ja. Un ick bin der Kusäng vom Bürgermeister. Komm Alter, da jeht’s raus.«
    »Giulietta!«
    Aber sie reagierte nicht. Sie schaute die Blumen an. Und den Briefumschlag.
    Dann war sie allein. Sie hörte Schritte, die sich entfernten, und dann das Geräusch einer zuschlagenden Tür. Sie nahm den Briefumschlag und roch an den Blumen. Lutz. Es konnte nur von ihm sein. Sie nahm ein Tuch, wischte sich die Augen trocken und griff nach einer Nagelfeile. Jasminduft stieg ihr in die Nase. Sommerduft. Sie schnitt das Kuvert auf und suchte nach einer Grußkarte. Aber der Umschlag enthielt keine Nachricht. Es lag etwas darin. Sie ließ die Hand in den Umschlag hineingleiten und zog sie erschrocken wieder zurück. Sie hatte etwas berührt, etwas Pelziges. Sie drehte den Umschlag herum und schüttete seinen Inhalt auf dem Tisch vor sich aus.
    Wer um alles in der Welt schickte ihr eine Haarlocke …?
    Dann der Schock. Eine Haarlocke! Sie griff erneut nach dem Umschlag und suchte nach einer Nachricht. Aber nirgends stand etwas geschrieben. Sie riss das Kuvert entzwei. Nichts! Sie lehnte sich zurück und betrachtete verstört die Blumen. Jasmin. Lutz? Seine Stimme am Telefon. Die Gesprächsfetzen ihrer Unterhaltung heute Abend …
weil ich Dir Glück bringe … was machst du anschließend?
Ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Wie …? Sie starrte erneut auf die Haarlocke. Das war
ihr
Haar. Was hatte Lutz gesagt? Warum wollte er nicht zu Vivianes Party kommen?
Ich muss nachher gleich nach Hause. Besuch von einem alten Freund.
    Sie sprang so plötzlich auf, dass ihr Stuhl krachend gegen die Wand flog. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Aber das konnte doch nicht … wie sollte …? Sie ging einige Schritte in Richtung Tür, kehrte dann wieder zu ihrem Platz zurück und riss hastig den Jasminblütenstrauß auseinander. Aber da war nichts. Kein Hinweis. Keine Botschaft. Nur Blüten und Blätter. Und ihre Haarlocke. Großer Gott!
    Die Tür ging auf. Kolleginnen kamen schwatzend herein. Plötzlich war alles um sie herum voller Menschen. Giulietta griff nach ihrem Mantel. Es war unmöglich. Aber niemand außer ihm … wie um alles in der Welt? … war er am Leben … war er hier gewesen? … heute Abend? … mit Lutz?
    »Giulietta.« Heerts Stimme. »Wo willst du hin?«
    »Ich muss weg, es ist furchtbar dringend.«
    »In Ballett-Schuhen?«
    Sie schaute an sich herunter und begann in
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