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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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rasender Eile die Bänder aufzunesteln. Heert ging vor ihr in die Hocke und ergriff sie bei den Schultern.
    »Was ist denn nur los mit dir? Du warst großartig. Die Leute klatschen immer noch.«
    »Ich kann jetzt nicht reden, Heert. Ich …«
    Jetzt lachte sie plötzlich. Es war ein hysterisches Lachen. Tränen rollten ihr noch immer aus den Augenwinkeln.
    »… ich erkläre es dir ein anderes Mal … aber danke … für alles.«
    Er begriff überhaupt nichts.
    »Hör zu, ich kenne das«, sagte er.
    Sie lachte ihn erneut an.
    »Nein, das kennst du nicht. Aber das macht nichts.«
    Sie hatte die Bänder noch immer nicht aufgeknotet. Sie zog heftig daran herum, riss sich dann die Ballett-Schuhe von den Füßen und warf sie in die Ecke. Bevor Heert noch etwas erwidern konnte, hatte sie Turnschuhe an und war auf dem Weg zur Tür.

34
    S ie war durch die Kantine geeilt und hatte die Oper durch den Osteingang verlassen. Niemand bemerkte sie. Berlin war ihr niemals schöner erschienen. Der Nieselregen. Die Kälte. Die grauen Fassaden. Der schwarz glänzende Asphalt. Aus dem Fenster ihres Taxis sah sie im Vorbeifahren, wie die Besucher aus der Oper strömten. Der Platz vor dem Haupteingang war schwarz von Menschen. Es gab Gedrängel vor den Schaukästen. Sie wusste, wo die drei Probenfotos von ihr hingen. Juliana Echevery. Eine Menschentraube von Neugierigen hatte sich davor gebildet.
    Aber was bedeutete dieser Erfolg schon gegen das, was sie in ihrer Hand trug? Sie hielt ihre Haarlocke fest umklammert, als würde sie sich sonst jeden Augenblick in Luft auflösen – und damit auch die absurde Hoffnung, die sie in sich barg. Doch wie sollte das möglich sein …? War Lutz deshalb so aufgeregt gewesen? War Damián hier? War er am Leben?
    Gedächtniskirche. Wittenbergplatz. In fünf Minuten wäre sie bei ihm. War er in der Oper gewesen? Hatte er sie vielleicht sogar tanzen sehen? Oder hatte sie etwas missverstanden? Gab es eine Sitte, von der sie nichts wusste? Schenkte man Tänzerinnen Haarlocken als Glücksbringer? Wie konnte er am Leben sein? Doch dieses Zeichen … es war ihr Haar … das war kein Zufall, konnte kein Zufall sein … wie sollte sie ihm begegnen?
    Sie sprang aus dem Taxi, wartete weder auf das Wechselgeld noch schloss sie die Tür. Sie sah, dass in Lutz’ Wohnung Licht brannte. Jemand stand am Fenster und schaute zu ihr herab. Dann verschwand die Person. Der Türöffner begann zu summen, ohne dass sie den Eingang erreicht oder überhaupt geklingelt hatte. Als sie den Hausflur betrat, ging das Treppenhauslicht an.
    Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie wollte seinen Namen rufen. Aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie nahm jeweils zwei Stufen auf einmal und hörte, wie ihr von oben Schritte entgegenkamen. Dann sah sie seine Hand auf dem Handlauf. Und im nächsten Augenblick die ganze Gestalt. Er blieb stehen. Sie schaute zu ihm auf. Damián. Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Er streckte die Hand nach ihr aus, sprang die restlichen Stufen zu ihr herunter und umarmte sie.
    Sie hielt ihn fest. Stumm. Fassungslos. Minuten vergingen. Die Treppenhausbeleuchtung erlosch. Doch noch immer bewegten sie sich nicht. Ein schmaler Lichtschimmer erhellte zwei Stockwerke weiter oben den Treppenabsatz, und von dort hörte man gedämpft Musik. Er löste sich von ihr, küsste ihre Stirn, strich über ihr Haar, nahm sie an der Hand und führte sie durch die Dunkelheit langsam nach oben.
    Die Tür stand offen. Damián ging voran, ließ sie eintreten und schloss dann behutsam die Tür. Noch immer hatten sie kein Wort gesprochen. Er half ihr aus dem Mantel, hängte ihn an einen Haken neben der Eingangstür und zog sie ins Wohnzimmer.
    Der Großteil des Raumes wurde von einem Kachelofen und einem Flügel in Anspruch genommen. Eine einzelne weiße Kerze brannte auf dem Instrument. Daneben stand eine Ledercouch, davor ein Glastisch. Riesige Fotos von New York schmückten die Wand dahinter. Der Kachelofen knackte. Lutz war nirgends zu sehen.
    Damián stand mit den Händen in den Taschen im Raum und schaute ihr zu, wie sie zaghaft auf dem Sofa Platz nahm. Sie war plötzlich befangen. Damián sah verändert aus. Er trug die Haare kurz. Der Pferdeschwanz war verschwunden. Seine Kleidung war ungewohnt. Hose und Jackett. Ein weißes Leinenhemd. Braune Halbschuhe aus geflochtenem Leder. Ihre Blicke trafen sich. Er versuchte zu lächeln, aber sie spürte, dass er genauso unsicher war wie sie.
    Sie erhob sich, ging zu ihm
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