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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sicher wie in jedem beliebigen Versteck.«
    Er nahm ihre Hand und küsste ihre Fingerspitzen. Dann schüttelte er kurz den Kopf.
    »… wie hast du dort nur hingefunden?«
    Giuliettas Gesicht verfinsterte sich in Anbetracht des monströsen Plans, den ihr Vater hinter ihrem Rücken in Gang gesetzt hatte. Sie erkannte mit Schaudern, wie er wirklich dachte. Wie lange er wohl gebraucht hatte, bis er die wichtigsten Informationen zusammen hatte, die es ihm erlaubten, solch eine teuflische Falle zu ersinnen? Wie man konspirative Operationen organisiert, hatte er im Spitzelstaat DDR ja offensichtlich gelernt. Er hatte Fernando Alsina ausfindig gemacht und sich schnell zusammengereimt, dass Damiáns Adoptivvater politisch viel zu verlieren hatte, wenn man ihm damit drohte, ein wohl gehütetes Geheimnis aus der dunklen Vergangenheit der Diktatur zu enthüllen. Ein Telefonanruf dürfte genügt haben, um den alten Alsina in Alarmbereitschaft zu versetzen. Der Plan war von geradezu diabolischer Eleganz. Damián konnte sich ihr nicht nähern. Sie selbst war unter ständiger Beobachtung und zugleich ein Lockvogel für Damián. Und um ein Haar hätte sie Damián unwissentlich in die Falle gelockt.
    »Arquizo hätte mich auf der Stelle erschossen«, fuhr Damián fort. »Der Mann ist ein Tier. Ich bin sicher, dass Dolores Alsina dich deshalb aufgesucht hat. Sie hatte Angst um mich. Sie kennt die Rangliste der Leute, die für Alsina die Drecksarbeit erledigen. Arquizo bedeutete das Ende. Exekution. Ich denke, sie wollte mich warnen. Sie muss gehofft haben, dass du vielleicht doch wissen könntest, wo ich war. Sie hatte ja keine Ahnung, dass ich über alle ihre Bewegungen Bescheid wusste. Ich frage mich, wie der Alte darauf reagiert hat.«
    »Aber warum hat sie mir nicht die Wahrheit gesagt, wenn sie dir wirklich helfen wollte?«
    Damián verzog das Gesicht.
    »Dazu hat sie viel zu viel Angst vor ihrem Mann. Sie wollte mir nicht helfen. Nicht wirklich. Dafür ist es außerdem viel zu spät. Maria Dolores Alsina weiß genau, wo ich herkomme. Sie ist Teil dieses Systems.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir das alles gar nicht vorstellen.«
    »Weil du keine Ahnung von diesem Land hast. Das organisierte Verbrechen ist bei uns eine Staatsform. Es ist keine Episode, wenn ein Land straflos Tausende seiner Bürger abschlachten lässt und danach ein Gesetz erlässt, das solche Verbrechen auch noch legitimiert. Es ist der extreme Ausdruck der Normalität, die dort herrscht. Gewalt. Gegen unsere Regierungen gibt es keinen Schutz. Und vor gewissen Leuten erst recht nicht.«
    Seine Augen blitzten zornig. Dann besann er sich und sprach ruhig weiter.
    »Alles war bis ins letzte Detail geplant. Am Sonntagmorgen würde das präparierte Auto mit der Leiche von dem unfertigen Autobahnstück auf den Paseo Colón stürzen und in Flammen aufgehen. Zum gleichen Zeitpunkt wäre ich bereits auf dem Landweg nach Uruguay unterwegs. Alles war vorbereitet. Dann hörte ich am Samstag, dass du mit deinem Vater auf dem Weg zum Flughafen warst und dass Alsinas Leute die Verfolgung aufgegeben hatten. Ich weiß auch nicht, was da mit mir geschah. Der fingierte Unfall und die Flucht konnten auch schief gehen. War all den Leuten zu trauen, die Haydée engagiert hatte? War hier nicht jeder käuflich? Oder einer von ihnen? Also beschloss ich, zum Flughafen zu fahren. Ich … ich wollte dich noch einmal sehen, sicher sein, dass du auf dem Heimflug warst und vielleicht gar nicht erfahren würdest, dass ich am nächsten Tag … Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet. In der Halle, in der Telefonzelle, an der Passkontrolle … und dann bist du plötzlich umgekehrt … das war Wahnsinn … warum kehrt sie um, dachte ich, warum fliegt sie nicht, weg von hier, in Sicherheit … doch als du vor mir standest, als ich deine Augen sah, dich spürte … da konnte ich nicht anders. Ich wollte noch einmal diesen Traum erleben, Giulietta, diesen Traum, dein Mann sein zu dürfen … es war völlig verrückt, ich weiß … unverantwortlich … aber ich konnte nicht anders. Vielleicht hatte ich noch zwölf Stunden zu leben. Vielleicht würde alles schief gehen. Aber ich wollte dir noch einmal gesagt haben … gezeigt haben, was du mir bedeutest … bevor ich dein Bruder wurde, wollte ich noch einmal dein Mann sein.«
    Während er sprach, waren ihr Tränen in die Augen getreten. Sie hob ihre Hand und berührte mit ihrem Zeigefinger sanft seine Lippen. Dann zeichnete sie
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