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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Bandoneons. Sie hörte die Klappen der Ventile und das Atemholen des Balges, das raue Schaben dieses unbeschreiblichen Tones. Die Musik lockte sie und wies sie ab. Ihr Körper war eins mit dem Instrument. Es spielte mit ihr, hob sie hoch, um sie dann sogleich gegen den Boden zu pressen. Es öffnete sie weit für eine Umarmung mit der tröstlichen Violine, um ihr im nächsten Augenblick den versprochenen Trost sofort mit einem verräterischen Grollen zu entziehen.
    Sie sah weder das versteinerte Gesicht ihres Vaters noch die gelösten Züge ihrer Mutter, die ihr völlig selbstvergessen zuschaute. Sie nahm überhaupt nichts wahr. Sie beendete das Solo, hielt einen Augenblick inne, die Arme
allongé
in der vierten Position, und begann den Abgang:
    chassé, dégagé, ronde de jambe
    chassé coupé en tournant, bourrée
    chassé coupé en tournant, bourrée
    chassé coupé en tournant, bourrée
 …
    Dann hörte sie vereinzelt Beifall. Einige Bravo-Rufe ertönten, während andere Zuschauer durch Zischlaute Ruhe für den Fortgang der Aufführung forderten. Viviane kam auf sie zugeeilt und brachte ihr ein Handtuch.
    »Großartig, Giulietta«, flüsterte sie. »Ganz hervorragend. Bist du okay?« Vor lauter Aufregung duzte sie sie plötzlich.
    Sie nickte, atmete schwer und schaute sich um. Theresa machte ihr aus der Ferne ein Zeichen mit der Hand. Daumen nach oben. Heert war nirgends zu sehen. Zwei Tänzerinnen der Strawinsky-Gruppe gratulierten ihr mimisch.
    Jetzt hatte sie etwa acht Minuten bis zum nächsten Einsatz. Sie überprüfte ihre Schuhe, streckte und dehnte sich. Und dann begriff sie. Spontaner Applaus! Für sie! Sie schloss die Augen und lauschte.
Cite Tango
. Der dritte Teil. Keine Geräusche aus dem Publikum. Keine Unruhe. Der Funke war übergesprungen. Das Stück trug jetzt. Wo war Heert nur hingegangen? Seine Reaktion hätte ihr jetzt etwas bedeutet. Und sie war ihm dankbar. Dies war ihr Stück. Wenn nur Damián … sie verbot sich den Gedanken, aber die Erinnerung hätte sie jetzt beinahe aus der Fassung gebracht. Diese Musik, wie sollte sie jemals diese Musik ertragen können?
    Sie lauschte ergriffen den ersten Takten von
Michelangelo ’70
. Sie liebte dieses Stück. Das Gehetzte, Fiebernde, Schwirrende. Es war aus dem gleichen Stoff gemacht wie
Escualo
. Sie schloss die Augen und wartete ungeduldig auf das klirrende Fauchen am Ende.
    Und dann war es so weit. Der Gitarrenlauf von
Mumuki
erklang. Die Violine setzte ein. Ihr Partner erschien neben ihr und nahm sie bei der Hand. Sie liefen zu ihrer Position und begannen den Schlussteil. Diesmal waren alle ihre Sinne geöffnet, als sie sich aus der Paarformation löste und für das Abschluss-Solo in der Bühnenmitte Aufstellung nahm. Sie spürte die Intensität der Blicke. Man hatte auf sie gewartet. Sie wurde wieder erkannt. Lutz hatte es später immer wieder so beschrieben. Sie war das Kraftzentrum, welches das ganze Bild zusammenhielt. Die Herrscherin über diese Klangwelt. Seine Sitznachbarn hätten sich vorgebeugt, als sie zurückkam. Und dann dieses grandiose Schlussbild: die acht Tänzerpaare glitten versetzt auseinander und erweckten den Eindruck eines sich öffnenden Bandoneonbalges. Giulietta stand in der Mitte und fügte Drehung an Drehung, während der Bandoneonton langsam ausklang. Die Gruppe erstarrte in der Bewegung. Jetzt hörte man nur noch die Violine, ein eisiges Flageolett. Giulietta tanzte von Paar zu Paar. Nun wurde das Bild verständlich. Sie verkörperte die Musik, welche die Paare zueinander geführt hatte. Diese Gemeinschaft wurde nun wieder aufgelöst. Die Tänzerinnen und Tänzer trennten sich allmählich und füllten die Bühne in der größtmöglichen Entfernung voneinander. Giulietta kehrte in die Mitte zurück und tanzte wie festgenagelt auf der Stelle, vom Frauenschritt in den Männerschritt wechselnd. Giuliettas Schlussposition war androgyn: Armhaltung des Mannes, Beinhaltung der Frau, das Gesicht erschrocken abgewandt. Und mit dem Schlussakkord, diesem klagenden, sirenenartig verzerrten Glissando der Geige, drehten sich alle Gruppentänzer zu ihr hin und streckten suchend den Arm nach ihr aus.
    Weißes Licht. Dann völlige Dunkelheit.
    Vorhang.

33
    D ie Länge der anschließenden Stille war ein Maß für den darauf folgenden Beifallssturm. Manche Zuschauer warteten erst gar nicht den zweiten Vorhang ab, sondern applaudierten sofort stehend. Beim zweiten Vorhang stand das ganze Haus. Die sechzehn Tänzerinnen und Tänzer
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