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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus
Autoren: Liz Trenow
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Kapitel 1
    Die Geschichte der Seide hat vieles mit dem schönen Geschlecht zu tun. Ihre Entdeckung wird der chinesischen Kaiserin Hsi Ling zugeschrieben. Angeblich ist im Jahr 2640 vor Christus eine Seidenraupenpuppe aus dem Maulbeerbaum, unter dem sie saß, in ihre Teetasse gefallen. Als sie versuchte, den Kokon zu entfernen, begannen die klebrigen Fäden sich zu lösen und sich an ihre Finger zu heften. Sie untersuchte den Faden genauer und erkannte sofort dessen Potenzial. Von diesem Moment an widmete sie ihr Leben der Zucht von Seidenraupen und der Produktion von Seide zum Weben und Sticken.
    Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
    Vielleicht liegt es daran, dass der Tod alle sprachlos macht, wenn sich die Gäste bei Beerdigungen in Plattitüden flüchten. » Er hatte ein ausgefülltes Leben … Ein wundervoller Abschied … Eine sehr bewegende Trauerfeier … So schöne Blumen … Du hältst dich so tapfer, Lily. «
    Das ist keine Tapferkeit: meine geraden Schultern, der erhobene Kopf, dieser bemühte Ausdruck von Dankbarkeit. Es ist nichts als die Entschlossenheit, den heutigen Tag zu überleben und so bald wie möglich mit dem weiterzumachen, was von meinem Leben noch übrig ist.
    Der Tote in dem kostspieligen, mit Verner-Seide ausgeschlagenen und mit Lilien geschmückten Sarg, der jetzt tief in der Erde ruht, ist nicht der Mann, den ich geliebt und mit dem ich die letzten fünfundfünfzig Jahre meines Lebens geteilt habe.
    Auch nicht der Mann, der mir half, nach den traumatischen Kriegserlebnissen wieder zu mir zu finden, der meine Hand hielt und meinem wunden Herzen mit seiner klugen Art und seiner Zuversicht Ruhe schenkte. Es ist nicht der Mann, der mich zur Frau nahm und ein liebevoller Vater und Großvater wurde. Die Freude über unser gemeinsames Leben machte es uns möglich, die Schrecken der Vergangenheit zu begraben.
    Nein, dieser Mann verschwand bereits vor Monaten, seit die Krankheit ihn fest in ihrem Griff hielt. Sein Tod war eine gnädige Erlösung, und ich habe meine Trauer bereits hinter mir. Oder zumindest rede ich mir das ein.
    Nach der Beisetzung füllt sich das Haus mit Leuten, die ihm » ihre letzte Ehre erweisen wollen « . Aber ich sehne mich danach, dass sie gehen, und als sie es endlich tun, lassen sie neben Erinnerungen halb geleerte Gläser und Reste von kalten Platten zurück.
    Um mich herum räumen mein Sohn und seine Familie auf. Sie spülen Geschirr, saugen Staub, leeren die Mülleimer. Im grellen Licht der Küchenlampe fallen mir erste graue Fäden in Simons dunklem Haar auf, und mit einem Mal bemerke ich überrascht, dass er inzwischen ein Mann mittleren Alters ist. Louise, seine Frau, ist in den vergangenen Jahren ein wenig rundlich geworden. Sie werden bald in dieses Haus einziehen, und ich freue mich für sie. Nicht nur weil sie mehr Platz gut gebrauchen können, sondern auch weil mir die Idee gefällt, dass die nächste Generation diese Mauern mit neuem Leben füllen wird. Unser Kastanienhaus, so haben wir es immer genannt nach den hohen Bäumen, die es umstehen. Aber heute ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über den bevorstehenden Umzug zu sprechen.
    Sie schicken mich aus der Küche. Ich gehe in den Salon, schalte Fernseher und Wiedergabegerät ein und schaue mir die Diashow an, die sie für die Trauergäste zusammengestellt haben. Vorher, in der Gruppe, war mir nicht danach. Jetzt blicke ich gebannt auf den Bildschirm, auf dem Fotos einander ablösen und sein Leben Revue passieren lassen. Manche sind mir vertraut, andere habe ich lange nicht gesehen. Sepiafarben die Kindheit, schwarz-weiß die frühen Erwachsenenjahre und dann farbig bis ins hohe Alter – jedes Bild blitzt bloß für wenige Sekunden auf und geht sogleich in das nächste über.
    Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, empfinde es als Farce. Als ärgerlich, ja sogar beleidigend. Wie kann man ein langes Leben in eine Diashow pressen? Doch als die Bildfolge zu Ende ist und sich zu wiederholen beginnt, ergreift ein anderes Gefühl in mir Raum. Trauer. Meine Erleichterung darüber, dass er nicht länger leiden muss, weicht der erschreckenden Erkenntnis, dass ich einen großen Verlust erlitten habe.
    Ich habe ihn geliebt. Er war ein gut aussehender Mann, aktiv und tatkräftig. Ein Mann, dessen Selbstlosigkeit keine Grenzen kannte, der nahezu unbegrenzt gutmütig war. Der jeden Teil von mir unendlich liebte und mich zu einer glücklichen Frau machte. Ich schaue auf die vorbeiziehenden Bilder und
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