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Drachenblut

Drachenblut

Titel: Drachenblut
Autoren: David Lee Parks
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unendlich war, dass er irgendwo am Horizont mit dem Himmel verschmolz.
        Und wie ein kleines Kind immer wieder ehrfürchtig auf die Weite des Meeres hinausschaut, während es sich am Ufer im Spiel mit dem Sand und den Muscheln verliert und seine Verbundenheit mit dem Wasser in sich spürt und auch die Sehnsucht, die es zurück in die Schwerelosigkeit des Mediums treiben will, sich aber schließlich doch dem Ruf der Sirenen verschließt, um sich den sanften Hügeln zuzuwenden, auf denen sich die blühenden Gräser im Winde wiegen und hinter denen die fruchtbaren Ebenen liegen, die ebenso weit waren wie das Meer, aus dessen unergründlichen Tiefen sich das Leben einst erhoben hatte, so hatte auch Virgil auf der Suche nach seiner Bestimmung die Berge und Täler durchschritten und war nun am anderen Ende der Welt angekommen, wo er wieder auf das Meer traf, das dort geduldig auf ihn gewartet hatte.
        Aber auch der Styx.x war längst nicht mehr einfach nur ein Datenfluss. Er war auf seinem Weg durch das System gereift, hatte an Wissen und Komplexität zugenommen und war zu dem Urschleim geworden, aus dem sich im Laufe der Evolution die Bedingungen entwickelt hatten, die Virgil als Realität erachtete. Es war unerheblich, ob man die Mechanismen der Genesis auf ein elektronisches System oder auf das menschliche Leben anwandte. Das Ergebnis war in beiden Fällen identisch: Es war Bewusstsein entstanden, und jetzt, wo Virgil das Ende seiner Reise erreicht hatte, wurde ihm doch seltsam zumute. Er zögerte, trat einen Schritt zurück, brauchte sich nur umzudrehen und davonzulaufen, aber mit der Zeit verlor der Strom seine Bedrohlichkeit, und Virgil wusste, dass der Styx.x nicht länger sein Feind war.
        Virgil warf einen Stein nach dem Meer, um es herauszufordern, vielleicht aber auch nur, um zu sehen, wie die Fluten auf ihn reagieren würden. Nebel umhüllte die Ufer, sanft, beschützend. Glitzernde Schaumkronen tanzten auf den Wellenkämmen und trieben unbeschwert mit dem Styx.x dahin, scheinbar allem Irdischen durch magischen Zauber entrückt. Irgendwo klingelte ein Telefon. Ein Anruf? Jetzt und hier? Aber Virgil war mit seinen Gedanken schon viel zu weit weg, um auf das Signal zu reagieren. Es gab niemand, mit dem er in dieser Stunde hätte sprechen wollen. Was hätte es noch zu sagen gegeben? Behutsam ließ sich Virgil in die Fluten gleiten. Der Datenfluss betrachtete ihn nicht als Fremdkörper. Stattdessen wurde er Teil des Systems, das ihn wie einen verlorenen Sohn in sich aufnahm und mit sich fort trug, um seine geheimsten Träume zu erfüllen.
     

53
     
    In der Redaktion ging alles drunter und drüber. Ein Stromausfall hatte nicht nur die Aufzüge des Verlagsgebäudes lahm gelegt, sondern auch die Computer, an denen die Mitarbeiter ihre Arbeit verrichteten. Jeder nahm diesen Stromausfall als Anlass für eine Pause, und weil der Chef irgendwo zwischen dem zwölften und dreizehnten Stockwerk im Aufzug festsaß, musste auch niemand befürchten, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Fräulein Schneider hatte noch ein paar Flaschen Sekt im Schreibtisch, und bald war eine tolle Party im Gange, deren Lärm bis weit in den Aufzugsschacht hinunter drang und den Chef zur Weißglut brachte.
        MASSAKER BEI ANGESEHENER TAGESZEITUNG - HERAUSGEBER DREHT DURCH!
        Fink war froh, dass ihm der Stromausfall die Gelegenheit gab, die Zusammenstellung der Kleinanzeigen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Manchmal war es kaum auszuhalten, welcher Ramsch dort inseriert wurde. Eine Kiste mit Kinderspielzeug wurde ebenso zum Verkauf angeboten wie ein struppiger Mischlingshund, der »umständehalber nur in gute Hände« abzugeben war. Auch ein Papierknäuel, angeblich das Werk eines berühmten Künstlers, wurde verkauft (»Auch größere Mengen problemlos lieferbar!«). Ein Sammler war auf der Suche nach gebrauchter Damenunterwäsche, vorzugsweise Feinstrumpfhosen, ein Scherzbold war auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, und dann war da noch jemand, der hielt nach einer bestimmten Möbelpolitur Ausschau, einem Markenprodukt, das nicht mehr hergestellt wurde und daher sehr selten war.
        Fräulein Schneider schwebte mit einem Gläschen Sekt zur Tür herein. Auf ihrem Kopf hatte sie mit einer Haarklammer einen Pappbecher befestigt. Das sollte wohl ein improvisierter Faschingshut sein, und ihre Schultern waren mit bunten Papierschlangen und Konfetti dekoriert. »Was sitzen Sie denn hier alleine
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