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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens
Autoren: Douwe Draaisma
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Über das Vergessen – ein Vorwort
    Angenommen, Ihr Gedächtnis sähe so aus: ein geräumiges Zimmer. Das Licht fällt durch hohe Fenster. Sauber und ordentlich ist es. Ihre Erinnerungen stehen geordnet in langen Regalreihen an der Wand, sorgfältig gepflegt, aufgezeichnet, registriert. Treten Sie ruhig näher, nehmen Sie ein Buch, einen Ordner heraus. Sie lösen die Bänder, blättern ein wenig, und schon bald halten Sie das Gesuchte in Händen. Sie begeben sich damit an den Tisch und breiten Ihren Fund auf der glänzenden Oberfläche aus. Setzen Sie sich hin, Sie haben alle Zeit der Welt. Es ist still hier, niemand wird Sie stören. Wenn Sie zu Ende gelesen haben, falten Sie die Papiere wieder zusammen, schnüren die Bänder zu und stellen den Ordner ins Regal zurück. Sie schauen sich noch kurz im Zimmer um, Ihr Blick gleitet über die Bände, die dezent aufleuchten, und dann ziehen Sie die Tür gelassen hinter sich zu, im Bewusstsein, dass alles, was hier steht, bis zu Ihrem nächsten Besuch unberührt bleiben wird. Denn Sie wissen: Wenn Sie nicht hier sind, ist niemand da.
    Vielleicht ist es nicht jedermanns tiefste Sehnsucht, ein Gedächtnis zu haben, das so eingerichtet ist wie dieses Zimmer im Drenther Archiv kurz nach 1900, intern auch das ›Oberstübchen‹ genannt. Aber versetzen Sie sich einmal hinein: ein Gedächtnis, in dem Erinnerungen unter den richtigen klimatischen Bedingungen staubfrei aufbewahrt werden, fixiert auf säurefrei gebleichtem Papier, mit einem Register ausgestattet, das die Suche vereinfacht, und vor allem von einer Beständigkeit, die garantiert, dass auch ein fünfzig oder sechzig Jahre nicht nachgefragter Ordner ohne Mängel wieder zum Vorschein kommt. Wer hegt nicht das Ideal eines Gedächtnisses, in dem seine Erinnerungen sicher sind?
    Über unser Gedächtnis denken wir in Metaphern – wir können nicht anders. Platon stellte sich das Gedächtnis als eine Wachstafelvor, in der die Abdrücke unserer Erinnerungen bewahrt werden, der Ursprung von ›Impression‹, ›Eindruck‹. Spätere Philosophen hielten diese Metapher in Ehren, auch wenn die Tafel mit jeder Neuinterpretation eine andere Form bekam: Die Wachstafel wurde gegen Papyrus oder Pergament eingetauscht, Erinnerungen wurden in einem Kodex aufgezeichnet, zu Büchern. In anderen Metaphern wurde aus dem Gedächtnis ein Lagerraum, mal für Informationen, wie eine Bibliothek oder ein Archiv, dann wieder für Waren, wie ein Weinkeller oder ein Speicher. Im neunzehnten Jahrhundert begannen Neurologen und Psychologen, das Gedächtnis mit Begriffen der neusten Techniken zur Informationsspeicherung zu beschreiben: Kurz nach 1839 kam das ›fotografische Gedächtnis‹ ins Spiel, das ebenso wie der Phonograph (1877) und der Film (1895) Spuren in den damaligen Theorien über das Gedächtnis hinterließ. Psychologen haben es beibehalten: Das Gedächtnis sollte auch noch zum Hologramm werden und schließlich zum Computer. Was sich auch zwischen Wachstafel und Festplatte verändert haben mag – unser Denken über das Gedächtnis bewegt sich noch immer ängstlich entlang der Grenzen, die durch diese Metaphern gesetzt werden.
Anmerkung
    All diesen Metaphern ist gemein, dass sie für Konservieren, Speichern, Registrieren stehen. Gedächtnismetaphern versinnbildlichen in ihrem Kern Archive. Sie vermitteln die Vorstellung, dass das Gedächtnis etwas zu bewahren vermag, und zwar im besten Fall intakt und vollständig. Dass dies vollkommen logisch klingt, ist jedoch genau das Problem. Denn das Gedächtnis wird vom Vergessen beherrscht.
    Schon gleich nach unserem Eintreten in die Welt beginnen wir zu vergessen. Die fünf ›sensorischen Register‹ (früher auch Ultra-Kurzzeitregister genannt), in denen in erster Linie sinnliche Reize verarbeitet werden, sind darauf ausgerichtet, diese zu speichern. Was nicht rechtzeitig weitergeleitet wird, verschwindet. Das visuelle sensorische Register ist bislang von allen am detailliertesten untersucht worden. Der amerikanische Psychologe Sperling stellte 1960 fest, dass das ›ikonische Gedächtnis‹ visuelle Reize lediglich den Bruchteil einer Sekunde festhalten kann.
Anmerkung
Er präsentierte seinen Versuchspersonen in einem Blitz von 50 Millisekunden zwölf Buchstaben, angeordnet in je drei Reihen à vier Stück. Unmittelbar nach dem Blitz bat er die Versuchspersonen, die erste, zweite oder dritte Reihe wiederzugeben. Im Durchschnitt konnten sie drei der vier Buchstaben reproduzieren. So kurz
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