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Drachenblut

Drachenblut

Titel: Drachenblut
Autoren: David Lee Parks
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verlassen und ließen das Feuer im Kamin nur brennen, um die Erinnerung daran wach zu halten, wie vertraut sie einst mit diesem Heim gewesen waren.
        Bei jedem Schritt strich die junge Frau mit ihren Zehenspitzen wie mit einer Feder über den lockeren Schnee, bevor ihre Füße mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers darin versanken. Einige dürre Bäume säumten den Wegesrand, und sie streckten ihre Äste wie knöchrige Finger nach dem einsamen Wanderer aus. Über der Landschaft zog ein großer Vogel seine Bahnen am Himmel, und er trotzte dort oben den eisigen Winden, die am Horizont die Wolken übereinander schoben. Die Wolken kamen immer näher, sie türmten sich zu immer wagemutigeren Gebilden aufeinander, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie zusammenstürzen und ihr ganzes Gewicht in einem Schneesturm von sich werfen würden. Gelegentlich brach die Wolkendecke auf und ließ hier und da einige Sonnenstrahlen passieren, die wie Messer über die Landschaft fuhren, als wollten sie ein Stück aus der Erde schneiden. Ein unwirkliches Zwielicht lag über Feld und Flur, schon schlossen sich die Lücken wieder, und bald war der Himmel schwarz wie Tinte geworden. Obwohl der Sturm noch ein gutes Stück entfernt war, konnte man die Spannung spüren, die in der Luft lag.
        Als wäre sie sich des herannahenden Unwetters gewahr geworden, erhob die junge Frau den Kopf und hielt ein. In den zarten Falten ihres anmutigen Gesichtes lag das Wissen um ihre Reife und ihr Erwachsensein vergraben, und in ihren Augen spiegelte sich jetzt der Stolz und das Selbstbewusstsein wider, mit dem sie sich in dieser unwirklichen Umgebung behauptete. Mit einer sorgfältigen Bewegung strich sie ihre Haare aus dem Gesicht. Sie verharrte nachdenklich, scheinbar einer Stimme lauschend, die nach ihr rief, und dann drehte sie sich nach dem Haus um, das nur noch winzig klein am Horizont zu sehen war.
        Der Himmel über dem Haus tobte. Die Naturgewalten schüttelten und rüttelten an den Balken, der eisige Wind riss an allen Ecken, die er nur fassen konnte, und der Sturm schien sich geradezu über den Widerstand zu ärgern, den ihm das alte Gemäuer entgegensetzte. Mit einem finsteren Donnergrollen machte er seinem Ärger Luft. Er schimpfte und raste, er polterte und schleuderte unentwegt Blitze nach dem Haus, als wollte er nicht eher zur Ruhe kommen, als bis er alles niedergerissen und vernichtet hatte. Und endlich fing das Haus Feuer. Die Fensterscheiben zerplatzten durch die gewaltige Hitze, und die Flammen schlugen aus dem Dach heraus. Gierig verzehrten sie alles, dessen sie habhaft werden konnten, einen kleinen Teddybären, ein Buch mit vergilbtem Umschlag, und eine schwarze Spinne aus Plastik. Das Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Erst jetzt hatte die junge Frau die Kraft, ihren Blick von der qualmenden Ruine abzuwenden und ihre Augen mutig in die Zukunft zu richten.
        Unten im Tal lag die Stadt im Winterschlaf. Bald würde es Frühling werden, dann erwachte alles zu neuem Leben, und wer wusste, vielleicht würde sie jemanden finden, dem sie nahe sein durfte, dem sie vertrauen konnte, und den sie für wert erachtete, dass sie ihm ihre Kieselsteine als Zeichen ihrer ewigen Liebe zum Geschenk machte. Die junge Frau seufzte hoffnungsvoll, und mit einem feinen Lächeln machte sie sich auf den Weg, ihr Schicksal zu finden.
     
    Virgil erschauderte und erwachte aus seinem Schlaf. Er war von den wunderschönen Bildern in seinem Kopf ergriffen. Nie zuvor hatte er diese Intensität verspürt, die ihm das Spiel mit seiner Phantasie vermittelte. Dieses berauschende Gefühl war nicht mehr und nicht weniger als ein Zustand, in dem alles real war, solange es Virgil nur für möglich hielt. Nur ein Bewusstsein ohne Körper war wirklich frei, und Virgil fühlte eine innere Verbundenheit mit den Kräften, denen er diese Erkenntnis zu verdanken hatte. Er war fest entschlossen, diesen Kräften so nah wie nur irgendwie möglich zu sein. Aber erst wenn er sich seiner Fesseln entledigt hatte, war der Weg für ihn frei, sich dem ungebundenen Fluss der elektronischen Wechselfelder hinzugeben. Virgil spürte, dass es nach all den Jahren für ihn Zeit war, wieder zu dem Punkt zurückzukehren, an dem seine Reise schon vor Jahrmillionen begonnen hatte.
     
    Lange stand Virgil am Ufer des Styx.x und starrte respektvoll in die Fluten. Das Flussbett wurde an dieser Stelle flach und breit, und der Styx.x mündete in einen Ozean, der so
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