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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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der Stadt geschehen war?
    Er war in Fetzen und Schmutz gekleidet, seine Augen blinzelten halb blind, und jetzt streckte er eine magere, krallige Hand nach ihnen aus –
    »Braucht ihr einen Rat?«, erkundigte er sich mit seiner dürren, vertrockneten Stimme. »Er ist gar nicht teuer ...«
    Christopher spürte, dass Jumar etwas sagen wollte.
    Er sah die Drachen in der Luft über den Tempeln eine Schleife ziehen. Sie alle, alle hatten sich nun dort versammelt, um die Tore des Gartens gemeinsam mit ihrem Feueratem zu schmelzen und zu zerstören, was noch vom Stolz der Stadt übrig war.
    »Nein, wie solltest du –«, begann Jumar.
    Doch etwas in Christopher rastete in diesem Moment ein, eine unsichtbare Schaltung, ein winziges Rädchen – er, dem stets seine Erinnerungen in die Quere kamen, erinnerte sich ein letztes Mal:
    »Braucht ihr einen Rat?«, fragte der Mönch die junge Königin in ihrer Sänfte. »Er ist gar nicht teuer ...«
    Damals, mit der hochmütigen Abweisung durch die Königin, hatte alles begonnen.
    Er stieß Jumar an, und Jumar verstummte. Christopher sah ihn eindringlich an. Er sagte nichts, sah ihn nur an. Und Jumar begriff – auf eine unerklärliche Art begriff er, was Christopher ihm mitteilen wollte und wozu ihm keine Zeit blieb.
    »Ja«, sagte Jumar zu dem Alten in seinen Fetzen. »Wir brauchen einen Rat. Mehr denn je.«
    Der Alte nickte bedächtig. Die Drachen stiegen noch einmal in die Höhe, um sich gesammelt vom Himmel über dem Platz zu stürzen.
    »Öffnet die Tore«, sagte der Alte.
    »Wie bitte?« Jumar starrte ihn ungläubig an.
    »Öffnet die Tore zum Garten«, wiederholte der Bettler. »Es ist nicht länger der Garten des Königs. Der Garten gehört allen.«
    Und Christopher hörte Niyas Worte in seinem Kopf zwischen den anderen Erinnerungen:
    Es wird keine Reichen mehr geben und keine Armen. Die Tore des Palastes werden offen stehen. Und der König wird weinen.
    Seine Hände fanden den Riegel des einen Torfügeis beinahe von selbst. Arne half ihm, ihn aus seiner Verankerung zu befreien, in der ihn die Zeit hatte rosten lassen, vierzehn Jahre lang hatte niemand den stetig wachsenden Garten vom Durbar Square aus betreten. Wer ihn betreten durfte, war von innen gekommen, vom Palast. Christopher sah aus dem Augenwinkel, wie Jumar sich an der anderen Seite des Tores zu schaffen machte. Fliegende Finger lösten sie alle Riegel, alle Schranken, und gaben den Flügeln des großen Tores einen Stoß.
    Sie schwangen nach außen auf wie die Deckel eines Buches.
    Dahinter lag im Mondschein unter der gläsernen Kuppel der Garten – grün und geheimnisvoll.
    Der alte Bettler nickte und trat zur Seite.
    Jumar, Arne und Christopher sprangen ebenfalls zurück, zurück vom Tor – Christopher fühlte die federnde Erde des Gartens unter seinen Sohlen, er roch den Duft der Blüten –
    Und dann fegten die glimmenden, schillernden Körper der Drachen durch das breite Tor, ein Sturm aus Flügeln und Hälsen, Köpfen, geschmeidigen Körpern, peitschenden Schwänzen und scharfen Krallen – Christopher spürte den Windhauch, den sie mit sich brachten, und er hörte die Blätter der Bäume darin rascheln.
    Dies war das Ende.
    Das Ende der Farben im Garten. Das Ende des Duftes. Das Ende der Blumen.
    Das Ende von allem.
    Er schloss die Augen.
    Aber dann spürte er eine Hand auf seinem Arm, und Jumar wisperte: »Sieh nur. Christopher, sieh nur!«
    Da öffnete Christopher die Augen wieder, und er sah. Doch es dauerte, bis er glaubte, was er sah: Es gab keine Drachen im Garten. Keinen einzigen. Zwischen den Bäumen und Sträuchern, den Stauden und Rosenbüschen flatterten Millionen von Schmetterlingen.
    Sie ließen sich auf den Blüten nieder, um ihren Nektar zu trinken, aber sie konnten den Farben des Gartens nichts anhaben, und ihre Schatten waren winzig und harmlos.
    Der alte Bettler lehnte an einem der Bäume und beobachtete die Schmetterlinge.
    Und da erkannte Christopher ihn. Er hatte es natürlich die ganze Zeit über geahnt. Der Alte trug jetzt keine Fetzen mehr, er war in das orangefarbene Gewand eines Mönchs gekleidet. Oder vielleicht war er das die ganze Zeit schon gewesen? Und wie war er von den Bergen herabgekommen?
    Aber logische Fragen erschienen unwichtig vor all dem, was geschehen war.
    Der Mönch nickte noch einmal.
    Er hatte verziehen.
    Und dann verschwand er, einfach so.
    Das erste, zaghafte Licht des Morgens, das sich mit scheuen Fingern rötlich über den Horizont herauftastete, fand
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