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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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Händen geborgen, hätte nichts mehr gesehen und nichts mehr gehört! Aber sie mussten einen Weg durch all das Durcheinander finden, einen Weg zum Durbar Square.
    Woher kamen nur all diese Männer in den Straßen? Sie waren überall, ihre laufenden Füße, ihre erhobenen Arme, Gewehre haltend, ihre geduckten Rücken – er stolperte über einen Körper auf dem Boden, schrie auf, wurde von Jumar weitergezerrt wie zuvor. Jumar gönnte ihm keine Pause. Aber er hatte recht: Wer stehen blieb, war verloren.
    Einmal blickte Christopher nach oben und sah, dass auch die Dächer bevölkert waren von Schützen in Tarngrün, Schützen in Uniformen, Schützen, deren Zugehörigkeit er nicht erkennen konnte. Konnten sie es selbst? Wussten sie, wer zu wem gehörte? Oder waren die Schüsse ziellos? War das Spiel, auf alles zu zielen, was sich bewegte?
    Nein, sicher musste da eine Ordnung sein, ein Plan – aber er verstand ihn nicht.
    Um ihn herum war nichts als ein Meer von Bewegung, Licht und Schatten, Explosion und Echo. Es wurde schwer, oben und unten zu unterscheiden: Er sah Türen, die gewaltsam geöffnet worden waren, hörte Schreie aus Häusern. Er sah Männer, die ohne Gewehre kämpften, sah Messer blitzen, sah sie miteinander ringen, bloße Hände, Nägel, Zähne in der Nacht – und nun wurden die Körper immer mehr, die in den Straßen lagen und über die er stolperte. Manche von ihnen regten sich, griffen mit Schattenarmen nach ihnen. Manche waren still. Pulverrauch kringelte sich in den Lichtwunden der Nacht, Christopher roch Feuer, Qualm, roch das Blut. Oder bildete er sich das ein? Seine Füße wollten nicht weiter; ohne Jumar, der ihn zog, wäre er schon tausendmal stehen geblieben. In seinem Herzen sang die Angst.
    Er wusste nicht einmal, wie groß die Stadt war. Wie lange liefen sie schon durch das Chaos? Minuten? Stunden?
    Dies war es, was sie hatten verhindern wollen. Sie hatten kaum gerastet auf ihrer Wanderung, sie hatten sich so beeilt, sie waren in einem Flugzeug nach Kathmandu geflogen, und dennoch waren sie zu spät.
    Arne, dachte er, Arne. Läute die Glocke. Die Glocke am großen Tempel. Läute sie, damit die Farben in der Nacht auftauchen, die Fackeln – aber was, wenn er es wirklich tat? Wenn die Glocke erklang, während sie noch unterwegs waren? Wenn die Schatten der Drachen unter dem satten, halben Mond angesegelt kamen?
    War es wichtig, ob zwei Menschen mehr zu Bronzefiguren wurden? Was waren zwei inmitten so vieler? Nichts, gar nichts, kaum zählbar. Doch wenn man einer von den beiden ist, kann man so nicht denken.
    Warte, Arne! Warte! Nur noch ein wenig! Lass die Finger von der Glocke!
    Aber woher sollte Arne wissen, wie lange er warten konnte? Woher sollte er wissen, ob sie noch kamen? Oder ob ihre Körper längst bei denen waren, die den Boden der Straßen bedeckten wie ein makaberer Teppich? Und was, wenn Arnes Körper bereits zu jenen auf den Boden gehörte?
    Schließlich breitete sich ein Platz vor ihnen aus, ein leerer Platz, ohne Menschen, ohne Chaos – nur eine Handvoll Tempel stand dort, stufig, hoch und hölzern.
    Irgendwo am anderen Ende des Platzes schien ein Zentrum der Explosion zu sein, dort war Bewegung, dort waren Menschen – dort war der Palast. Aber der Platz selbst lag leer im Mondschein. Jumar hielt einen Moment an und sah sich um.
    Und Christopher begriff, weshalb der Platz leer war. Er war zu groß, zu weit, zu mondbeschienen. Wer über diesen Platz lief, wurde zur lebenden Zielscheibe.
    »Welcher?«, flüsterte Christopher. »Welcher ist der Tempel mit der Glocke?«
    Für ihn sahen sie alle gleich groß aus, klobige, eckige Wesen, die da vor ihnen hockten und stumm das Schauspiel betrachteten, das sich ihnen bot.
    Jumar zeigte.
    Und dann rannten sie.
    Noch nie war Christopher so schnell gerannt. Das Blut sang in seinen Ohren, er schmeckte es auf der Zunge, und es blieb ihm kaum Zeit zum Atmen. Er erwartete eine Explosion, ganz nahe, den Aufprall einer Kugel, das Feuer des Schmerzes. Doch nichts geschah.
    Niemand schoss auf sie.
    Vielleicht, weil einfach niemand damit gerechnet hatte, dass sich jemand auf den Platz hinauswagte.
    Sie erreichten den Tempel, erklommen seine fünf riesigen Stufen und ließen sich kurz darauf flach auf den Boden der obersten Plattform fallen. Christopher rang noch nach Atem, als er sah, wie Jumar sich aufrichtete, doch es war nicht Jumar, der den Arm hob, um die Glocke zu läuten. Es war Arne.
    Es war seine Hand, die der Glocke ihre Töne
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