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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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mitten im Kampf.
    Einen sahen sie mitten auf dem Platz aus einem Auto springen und in den Himmel sehen, und so blieb er stehen und rührte sich nicht mehr. Das Licht der Sterne spielte auf dem blank polierten Metall seines Gesichts. Ein gebügeltes Gesicht, ohne jede Regung.
    »Kartan«, flüsterte Christopher. Und Jumar nickte stumm.
    Die Fackeln in den Fenstern waren erloschen. Die Drachen zogen enttäuschte Kreise über der Stadt, sie suchten Farben, Farben, Farben – und schließlich ließen sie sich in den Straßen nieder, zwischen all jenen bronzenen Kämpfern, und begannen, die wenigen Farben zu fressen, die sich ihnen boten: Die Straßen wurden schwarz-weiß, die Häuser verloren ihren Anstrich, die Schreine und Tempel ihren bunten Schmuck. Es war kein Diamant, den die Drachen fanden, und sie wurden zunehmend wütend. Sie grasten braunen Staub. Gab es denn in dieser Stadt überhaupt nichts, das sich lohnte? Hatten sie ihre Gipfel umsonst verlassen?
    »Zum Palast«, flüsterte Jumar. »Rasch! Es wird Zeit, die Drachen loszuwerden, ehe sie den Garten entdecken!«
    »Den Garten?«, fragte Arne, und Christopher sagte: »Aber ist er nicht von einer Mauer umgeben? Liegt er nicht unter einer Kuppel?«
    »Doch«, antwortete Jumar, »das tut er. Aber Drachen sind Drachen. Und es sind viele. Mehr, als ich dachte ... wer weiß denn, was sie noch alles können, außer Farben zu fressen und Menschen zu Bronze verwandeln? Sie alle sind aus jenem ersten Drachen entstanden, und irgendwo in ihnen muss die Erinnerung an den Garten schlummern ...«
    Er schüttelte den Kopf, unterbrach sich selbst. »Keine Zeit mehr für schöne Worte. Kommt.«
    Sie verließen den Tempel schnell und lautlos. Noch war keiner der Drachen auf dem Durbar Square zu sehen, noch grasten sie die Farben der Straßen ab, systematisch und zunehmend ärgerlich. Sie waren zuvor über den Platz gekreist, aber womöglich schien ihnen das einheitliche Braun der hölzernen Tempel nicht lohnenswert, um damit zu beginnen.
    Vor dem Palast erwartete sie eine Armee aus Bronzestatuen –gespenstisch blicklose Augen schienen sie aus metallenen Gesichtern zu beobachten. Die verlassenen Körper von vier Panzern standen sinnlos in der Gegend. Jumar schob einen Metallsoldaten zur Seite und öffnete einen Flügel der prächtigen Tür, die der Mann bis zum Schluss bewacht hatte.
    Sie schlüpften beinahe lautlos hindurch, und drinnen schluckten dicke Teppiche das Geräusch ihrer Schritte. Jumar tastete sich durch die dunklen Gänge voran; Arne und Christopher folgten ihm, stolpernd, zögernd ... Christopher fürchtete hinter jeder Ecke eine Bewegung, ein Gewehr, eine übrig gebliebene Uniform.
    Doch der Palast war verlassen.
    Nur die Stille wartete in seinen Fluren und Sälen. »Vater?«, rief Jumar und blieb stehen. Niemand antwortete ihm.
    Als er durch jene leeren Zimmer lief, jene leeren Korridore entlang, packte die Macht der Erinnerung den Thronfolger Nepals mit erbarmungslosen Klauen und presste die Luft aus seinen Lungen. Hier hatte er seine ersten Schritte getan, diese Gänge war er an der Hand des alten Tapa auf und ab gelaufen, aus diesen Fenstern hatte er jahrelang auf den Platz hinuntergesehen, ohne ihn jemals zu betreten. Dies war die Vase, die er einmal umgestoßen hatte und die geklebt worden war – eine ohnehin hässliche Vase, man hätte sie von ihm aus nicht zu kleben brauchen. Dies war die Kommode, deren Schubladen er als Kind so gerne aufgezogen hatte, um darin nach Schätzen zu suchen, und alles, was er jemals gefunden hatte, waren Sicherheitsnadeln und Knöpfe. Dies war das Sofa, unter dem man sich verstecken konnte, wenn man vergessen hatte, dass man unsichtbar war. Dies war das Bild seiner Mutter an der Wand in dem Goldrahmen, den er so hasste, und ihr Lächeln, das er so liebte, aber nie gesehen hatte.
    Dies war die Tür, die stets verschlossen war. Die Tür, hinter der die goldbeschlagene Truhe schlummerte. Sie wartete auf ihn.
    Als er vor dem Schlafzimmer seines Vaters stand, verließ ihn der Mut. Er drehte sich nach Christopher und Arne um und suchte in ihren Gesichtern nach Bestätigung. Sie lächelten beide – ein identisches, aufmunterndes Lächeln.
    Warum, dachte der Thronfolger Nepals, habe ich keinen Bruder? Warum bin ich ganz allein?
    Aber es war nicht zu ändern. Was jetzt getan werden musste, musste von ihm getan werden und von keinem anderen. Er streckte die Hand aus und drückte die Klinke hinunter.
    Das Bett im Schlafzimmer des
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