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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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verloren!«
    Der König schüttelte langsam den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir leid, mein Sohn.«
    Dann drehte er sich um und ging den Gang entlang, seine schlurfenden Schritte gedämpft von den weichen Teppichen, die Hand an der Wand, tastend, sich stützend.
    Er kehrte zurück zu seinem Fenster. Es gab nichts mehr, was er tun konnte, außer hinauszusehen. Zuzusehen, wie die Stadt mit ihm starb.

Nepal, Dezember
    An einem Tag Anfang Dezember standen drei Gestalten an einem Fenster im Palast von Kathmandu. Oder halt: Es war kein Tag. Es war eine Nacht.
    Noch immer Nacht.
    »Wir müssen doch etwas tun!«, sagte eine der drei Gestalten, »irgendetwas!«
    Sie sahen gemeinsam aus einem der Fenster im Flur.
    Zwei schimmernde Drachen standen jetzt zwischen den Tempeln, am anderen Ende des Platzes. Ihre Augen brannten Löcher in die Dunkelheit. Die Stadt in ihrem Rücken hatte keine Farben mehr.
    »Sie haben den Garten entdeckt«, flüsterte Jumar. »Sie haben sich erinnert.«
    »Wir werden etwas tun«, sagte Christopher. »Komm. Es liegen zwei Stockwerke voll Treppen zwischen diesem Fenster und dem Tor zum Garten. Und auf jener Treppe wird uns etwas einfallen.«
    Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde.
    Aber er spürte, dass er jetzt vorausgehen musste. Seine Füße flogen die teppichbedeckten Treppenstufen hinunter, und hinter sich fühlte er Jumar und Arne, die ihm folgten.
    Als er die Tür des Palastes öffnete, waren noch zwei weitere Drachen auf den Platz hinausgekrochen – großen, lauernden Eidechsen gleich, die Flügel auf dem Rücken gefaltet. Sie schienen zu überlegen.
    Und dann öffnete einer von ihnen sein Maul und tat, was von Drachen erwartet wird: Er stieß eine Fontäne aus Feuer in die Luft. Eine ärgerliche, farbensprühende Fontäne.
    Zwei bronzene Körper, die vor ihm am Boden lagen, schmolzen in Sekunden zu winzigen Häufchen zusammen.
    »Das Tor des Gartens ist aus Metall«, sagte Jumar tonlos.
    Christopher sah den zweiten Drachen Feuer speien, und er bemerkte etwas Seltsames:
    Seine Angst war verschwunden.
    Die kalte, klamme, würgende Angst, die ihn im Griff gehabt hatte, seit sie in der Stadt waren.
    Oder nein: Die Angst, die er schon viel, viel länger in sich trug, jene Angst, die manchmal nachließ, manchmal beinahe fort war und unerwartet wieder auftauchte: vor einer Felswand, über die nur ein Weg durch die Luft führte. Vor einer Brücke, die man nicht sehen konnte. Vor den Menschen, zu denen er hatte sprechen müssen, hier, noch vor Kurzem.
    Die unterschwellige Angst, die ihn ein Leben lang verfolgt hatte, überall, wohin er ging: in der Schule, in den Straßen, im Bus, in der Bahn, in Flugzeugen – die Angst, etwas falsch zu machen, die Angst, jemanden zu verlieren und alleine zurückzubleiben.
    Sie war weg.
    Er suchte in sich, in jeder Ecke seines Selbst, doch sie war nicht mehr aufzufinden.
    Vielleicht hatte er an einem einzigen Tag all seine Vorräte an Angst verbraucht? Vielleicht war einfach nichts mehr übrig?
    Er hatte noch immer keine Idee, was sie tun sollten, doch er ging voran, an der Mauer des Palastes mit ihren bronzenen Wächtern entlang, bis dorthin, wo die Mauer des Gartens begann. Grüne Palmwedel schimmerten im Mondlicht unter der gläsernen Kuppel. Der Duft von Jasmin und Rosen machte die Luft süß und schwer. Eine Nachtigall sang hinter der Mauer, er hörte sie deutlich – Erinnerungsfetzen: Arne auf einer Nachtwanderung: »Das ist ein Sprosser, keine Nachtigall.« Er grinste unwillkürlich. Aber jetzt war keine Zeit mehr für Erinnerungen.
    Das Tor war aus Metall, wie Jumar gesagt hatte, reich verziert, voller Figuren und Beschläge.
    Christopher stellte sich davor und sah den Drachen entgegen.
    »Was hast du vor?«, fragte Jumar.
    »Ich habe absolut keine Ahnung«, gestand Christopher.
    Und in diesem Moment entfalteten die ersten Drachen ihre Schmetterlings-Schwingen, um sich zu erheben und über den Platz auf sie zuzufliegen.
    »Der Garten ist das einzig Schöne, was von der Stadt geblieben ist«, wisperte Jumar verzweifelt. »Die einzige Hoffnung.«
    Da regte sich etwas in den Schatten der Mauer, und eine alte, gebückte Gestalt erhob sich.
    Ein Bettler. Jene Mauerschatten mussten ihn vor den Schatten der Drachen bewahrt haben, als sie bei ihrer Ankunft einen ersten Kreis über dem Platz gezogen hatten.
    Womöglich hatte er bis jetzt geschlafen, im Schutz seiner eigenen Schwerhörigkeit, und gar nichts von alldem mitbekommen, was in
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