Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
keinen Bettler mehr im Palastgarten und auch keinen Mönch im orangefarbenen Gewand.
    Womöglich hatte es nie einen gegeben. Womöglich war alles Einbildung gewesen.
    Aber da waren die Flügel all jener Schmetterlinge, auf denen das erste Licht spielerisch seine Scheu verlor ... nun, manches muss unerklärt bleiben.
    Ein neuer Tag dämmerte herauf.
    Die Nacht war vorüber.
    Und der König, oben an seinem Fenster, der dies alles doch gar nicht sehen konnte:
    Er muss es wohl gespürt haben.
    Denn der König weinte.
    Er verabschiedete sich gegen 6.54 Uhr vom Leben, in den Armen seines Sohnes.
    Sterben tat er erst fünf Tage später, in einem weißen Krankenhausbett, zwischen einer Menge Schläuche und Geräte, aber das war unwichtig. Um 6.54 Uhr war er zum letzten Mal bei Bewusstsein.
    Jumar sagte ihm nichts davon, dass er das Land niemals regieren würde – mit welcher Macht auch immer.
    Die Stadt schlief lange am nächsten Tag, erschöpft und ausgelaugt unter ihren farblosen Dächern. Nur der Garten wachte über die Menschen, summend und flatternd, duftend und grün.
    Und mitten im Garten, in ihrem Pavillon, auf welchen Kissen, schlief die Königin. Sie schlief noch immer.
    Sie frühstückten zu dritt am späten Nachmittag, keine Konservendosen. Sie sagten nicht viel. Keinem von ihnen war danach, viel zu sagen. Außerdem lief der Fernseher.
    Kathmandu machte Schlagzeilen in den folgenden Tagen und eroberte die Nachrichten. Doch in den Nachrichten ist immer alles anders. Wer weiß schon, was wirklich geschehen ist?
    Über die Bilder in den Zeitungen wunderte sich selbstverständlich niemand, denn Bilder in Zeitungen haben niemals Farben. Aber viele Leute brachten in jenen Tagen ihre Fernsehgeräte zur Reparatur, weil sie ständig nur schwarz-weiße Bilder zeigten, wenn die Hauptstadt Nepals auf dem Bildschirm erschien. Die Mechaniker wussten sich keinen Rat. Die Fernseher waren alle in Ordnung.
    Und spätestens als die Nachrichtenwellen aus Nepal verebbten, vergaßen die Menschen die merkwürdigen Macken ihrer Bildschirme.
    Der große T wurde nicht wieder gesehen. Vielleicht gibt es ihn noch, ihn und seine Anhänger, irgendwo in den Bergen. Doch das Volk, sagt man, regiert sich jetzt selbst. Es hat ein Parlament gewählt und ist ab jetzt für sein eigenes Glück und Unglück verantwortlich. Man kann sich natürlich nicht sicher sein, ob das stimmt und ob es gut geht. Ein Thronfolger ist nie irgendwo aufgetaucht. Es gibt Gerüchte.
    Aber Gerüchte gibt es stets.
    Ist nicht dieses Buch ein einziges, langes Gerücht?
    Tatsache ist, dass die Ausfuhr von Bronzestatuen aus Nepal in den Monaten nach dem Regierungswechsel für kurze Zeit rapide anstieg. Die meisten von ihnen waren ungefähr handgroß, aber sehr realistisch und voller Details, als wären sie auf eine seltsame Weise von ihrer natürlichen Größe auf ihre jetzige Form herabgeschrumpft.
    Noch viel später berichteten manchmal Wanderer von Wegen, die einfach plötzlich nicht mehr da waren, Wanderer, die beteuern, sich sonst niemals verlaufen zu können. Sie werden erzählen, dass sie an jenen Tagen die berühmten blauen Schafe des Himalaja gesehen hätten, allerdings mit einem bronzefarbenen Stich in ihrem bläulichen Fell...
    Die Kuppel des Gartens wurde abgerissen, und die Kieswege wurden allen zugänglich gemacht. Die Leute wanderten staunend zwischen den duftenden Blüten umher und holten sich Ideen, wie sie ihre Häuser und Tempel neu anstreichen könnten. Auch der Pavillon in der Mitte des Gartens ist längst ein öffentlicher Platz. Die schlafende Königin musste zu diesem Zweck weichen und wurde – behutsam, aber endgültig – in ein Zimmer im dritten Stock des Palastes umgebettet.
    Dort lag sie zum ersten Mal unbequem – eine winzige Falte im Bettlaken drückte irgendwo in der Gegend ihres vierten Lendenwirbels, und davon wachte sie auf.
    Seitdem ist die Königin ein tolerierter Gast in ihrem eigenen Palast. Man munkelt, sie würde erwägen, demnächst dort Fremdenführungen für Touristen zu veranstalten, weil sie sich langweilt. Doch wo immer man sie sieht – sie wirkt stets etwas abwesend, als hätte sie einen großen Teil ihres eigenen Lebens verpasst und den Anschluss nicht mehr gefunden: ein verlorener Geist ihrer Zeit.
    Nicht alles kann gut ausgehen.
    Zwei Tage nach jener schattenvollen Nacht saß Jumar mit Christopher in einem der kleinen Teeläden der Stadt. Arne hatte sich auf die Suche nach einem Internetcafé gemacht, dessen Leitungen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher