Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
entlockte.
    Und so war er, zu oft im Hintergrund von Erinnerungen verborgen, wenigstens einmal verantwortlich für den Fortgang dieser Reise.
    Sein blondes Haar tauchte irgendwo in der Dunkelheit auf, schemenhaft im Schatten des Tempels, und sein Lächeln hing in der Nacht.
    Einen Herzschlag später machten die Töne der Tempelglocke sich auf den Weg in die Stadt, klar und durchdringend über den Schüssen, den Schreien, den Geräuschen von Motoren und Hufen – eine Botschaft, die verstanden wurde.
    Später sagten die Leute, als die Töne der Glocke erklangen, hätte das Blut in den Straßen die untersten Fensteröffnungen beinahe erreicht. Sie sagten, sie hätten gesehen, wie die Soldaten und die Aufständischen kniehoch, hüfthoch darin gewatet wären.
    Sie sagten –
    Doch es ist unwichtig, was sie sagten.
    Wichtig ist, was sie taten.
    Sie suchten mit zitternden Fingern nach Feuerzeugen, strichen die winzigen Wachsstreichhölzer des Landes an, jene mit dem kleinen Vogel auf der Packung, und manche sagten, in dieser Nacht hätte der Vogel – aber nein, wir wollen nicht mehr hören, was sie sagten. Denn nun brennen die hölzernen Fackeln in allen Fenstern der Stadt.
    Glühen zunächst nur, lodern dann auf, sprühen Funken in allen Farben des Regenbogens, knistern mit ihrem wunderlichen Harz, leuchten, funkeln – es gibt nicht genug Worte, um das bunte Feuer dieser Fackeln auch nur annähernd zu beschreiben. Die Stadt hat sich in eine einzige Fläche aus prickelnden Farben verwandelt, von oben gesehen gleicht sie einem riesigen, gleißenden Diamanten.
    Von oben gesehen. Und von den Bergen aus gesehen? Von ihren höchsten Gipfeln, von den Gletschern aus, aus dem Schnee? Von dort aus gleicht sie einem riesigen, gleißenden Diamanten, der weit fort ist. Weit fort und – ach, so verlockend! Die Farben! Das Funkeln! Das Gleißen! Eine plötzliche, unerwartete Erscheinung in der Nacht, deren Herkunft unklar bleibt.
    Man muss den Diamanten verschlingen, solange er da ist. Er könnte wieder verschwinden.
    Rasch, rasch!
    Und lautlose, körperlose Krallen kratzen ungeduldig durch die Luft, Augen, die keine Augen sind, glühen voller Gier – und dann erheben sich breite, schwerelose Schwingen.
    Ein Rauschen und Rascheln wie von Millionen winziger Flügel erfüllt die Luft.
    Die Drachen verlassen ihre schneebedeckten Berggipfel. Zum ersten Mal fliegen sie alle gemeinsam. Und sie kommen, sie kommen herunter nach Kathmandu.
    In die Stadt des Königs.
    Sie hörten die Flügel der Drachen – die Flügel der Abertausend Schmetterlinge nicht. Der Lärm des Chaos war zu groß, zu gewaltig.
    Die Drachen waren einfach plötzlich da.
    Arne sah sie als Erster. Er zeigte stumm in den Himmel, und die drei Jungen auf dem höchsten Tempel rückten tiefer in die hölzernen Schatten seines spitzen Daches.
    »Wie viele sind es?«, flüsterte Jumar. Doch sie waren unzählbar. Vielleicht waren es zwei Dutzend, vielleicht hundert, vielleicht mehr. Ihre Schatten glitten über die Dächer der Häuser am Rand der Stadt, ohne dass die Kämpfer in den Straßen etwas davon bemerkten.
    Ihre Hälse reckten sich, verwundert, suchend: Wo war die große, funkelnde, diamantene Fläche, die sie von Weitem gesehen hatten? Waren die einzelnen Lichter Diamanten? Konnte man ihre Farben fressen?
    Und dann fielen die Schatten der Drachen auf die Kämpfer. Als die ersten von ihnen aufsahen, war es bereits zu spät. Sie versuchten zu fliehen, Türen aufzubrechen, warfen sich panisch in den wenigen Mondschatten, den die Wände boten. Doch es nützte ihnen nichts.
    Die Schatten der Drachen berührten sie lautlos wie zärtliche Finger, und einer nach dem anderen erstarrte in der Bewegung, glänzte im Mondlicht unnatürlich, bronzen, statuengleich: Und das war es, was sie wurden. Ganze Truppen von Statuen, Zinnsoldaten aus Bronze.
    Taschenlampen fielen aus Händen, Gewehre kullerten in Gräben, Messer stürzten glitzernd zu Boden, grüne Tarnjacken wechselten ihre Farbe, Falten in Kleidern erstarrten auf ewig, erschrockene Blicke wurden zu Metall.
    Als die Schatten der Drachen den Durbar Square erreichten und Christopher das Entsetzen der Männer sah, tat es ihm für einen Moment leid. Aber dann dachte er an die Türen, die sie aufgebrochen hatten, die Schreie aus den Häusern, das Blut; vor allem jedoch dachte er an Niya. Er ballte die Fäuste in stillem Triumph, denn Jumars Plan war aufgegangen. Die Straßen wurden still. Die Kämpfer standen reglos, eingefroren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher