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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung
Autoren: Aufbau
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PROLOG
    Woodmancote Hall
    bei Bishops Cleeve
    Gloucestershire
    England
    Dezember 2008
     
    Weihnachten kam in diesem Jahr nach Woodmancote auf Flügeln von Eis und Schnee, den der heftige Wind an den Steinmauern und Scheunentoren der Hamberley-Farm zu hohen Wehen aufhäufte. Der Wintereinbruch war spät in diesem Jahr, dafür aber besonders heftig. Bizarre Gebirge arktischer Wolken am Herbsthimmel hatten ihn angekündigt. Auf Radio 4 hieß es, das liege an der Erderwärmung, und unten im Pub nickten die Grauköpfe dazu und unkten, das Wetter werde erst noch schlimmer, bevor es sich wieder bessere. Es waren kauzige alte Männer, die wohl schon zu viele Winter gesehen und zu viele Weihnachten erlebt hatten.
    Der Schnee bedeckte Felder, Dächer und Hecken wie dicker weißer Samt und schien so bald nicht schmelzen zu wollen. Als die letzten Flocken gefallen waren, folgten sternklare Nächte, in denen Mond und Sterne das Weiß silbern erstrahlen ließen, Vögel von den Bäumen fielen und die gefrorenen Beeren an den Zweigen knackten. Viele Tiere überlebten den Frost nicht – Schafe auf den Feldern, Eichhörnchen in Baumhöhlen voller Nüsse, Eulen einsam in dichten Eibenbäumen.
    Schon die ganze Woche vor Weihnachten erstrahlte Woodmancote Hall im Lichterglanz. Er kam von Glühbirnen und Kerzen, von zwanzig Holzfeuern, von einem Dutzend Kronleuchtern und von den Lichterketten, die Bäume und Kaminsimse schmückten. Von drinnen ertönte leise Musik. Der Chor des Kings-College sang alle Choräle, die man sich denken konnte:
Einst in König Davids Stadt, Stille Nacht, Erinnere dich, o Mensch …
    Wenn man draußen auf dem Rasen stand oder gar über die weite Fläche von Parget’s Meadow herüberschaute, wirkte das Haus wie ein Schiff auf Wellen von Schnee, ein behaglicher, freudvoller Ort, an dem man vor dem kalten Winter Zuflucht finden konnte. Solange die Vorhänge vor den hohen Fenstern noch nicht geschlossen waren, strömte das Licht in reicher Fülle heraus und warf Muster aus Hell und Dunkel auf das unberührte Weiß.
    Der betagte Gerald Usherwood, Lord und Herr auf Woodmancote, seit 700 Jahren Sitz seiner Familie, hatte als junger Mann seinem König beim Militär gedient. Jetzt sollte er sein 83. Weihnachten erleben und am Tag darauf seinen 84. Geburtstag. Festbeleuchtung und Musik galten ihm. Es sollte ein großes Fest werden, um Weihnachten, seinen Geburtstag und den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften zu feiern, den er zwei Wochen zuvor in Stockholm empfangen hatte.
    Die Verwandten erschienen zuhauf. Woodmancote Hall war zwar geräumig, aber kein großes Haus. Seine zehn Zimmer und ein paar hastig hergerichtete Räume unter dem Dach reichten bei weitem nicht aus, um diese Zahl an Großeltern, Eltern, Kindern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen aufzunehmen. Verspätete Gäste, die nicht mehr in Haus oder Gartenhäuschen unterkamen, mussten sichmit Zimmern im Dorf oder in Bishops Cleeve begnügen. Die Verteilung der Räume hatte Geralds ältestem Sohn George, der zusammen mit seiner Frau Alice die Verantwortung für das große Familientreffen trug, nicht wenig Kopfzerbrechen bereitet.
    Zu den Gästen gehörten vier Gruppen von Usherwoods, einige Draytons, eine Handvoll Cornwallises, die Grevilles aus Canterbury, ein oder zwei Ellises, die Naseby-Zwillinge und ein paar entfernte Cousins aus Madeira, die seit über vierzig Jahren keinen Fuß mehr nach England gesetzt hatten. Manche Gäste kamen sogar noch von weiter her – aus den Staaten oder aus Kanada. Geralds einziger noch lebender Bruder Ernest war da, vom Krebs gezeichnet, aber fest entschlossen, ein weiteres Jahr zu leben. Auch »Chips« Chippendale, wie Gerald ein Überlebender der Long Range Desert Group, der LRDG, aus dem Nordafrika-Feldzug des Zweiten Weltkrieges, war gekommen und zeigte sich in hervorragender Form. Für vier der fünf Kinder des Jubilars war es selbstverständlich, ihrem Vater samt Ehepartnern und Kindern die Ehre zu erweisen. Es sollte ein rauschendes Fest werden. Einen großen Teil des Preisgeldes hatte man darauf verwendet.
    In den Tagen der Vorbereitung auf Weihnachtsessen und Geburtstagsfeier war im Hause ein ständiges Kommen und Gehen von Gästen, die Geschenke brachten und sich mit dem Gastgeber fotografieren lassen wollten. Die Kinder, in Hochstimmung von der Aussicht auf Weihnachten und eine Party ohne Ende, liefen schüchtern oder voller Übermut durch die verfallenen Gänge und über die Wendeltreppen des Hauses wie in
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