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Zwischen Macht und Verlangen

Zwischen Macht und Verlangen

Titel: Zwischen Macht und Verlangen
Autoren: Nora Roberts
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1. KAPITEL
    Shelby wusste, dass Washington eine verrückte Stadt war. Doch besonders deshalb lebte sie dort so gern. Wenn man die Stadt von einer Seite zur anderen durchstreifte, stieß man auf viel Gegensätzliches: Schimmernd weiße Monumente und imponierende Regierungsgebäude standen neben modernsten Stahl- und Glaskästen, dazwischen versteckten sich alte Backsteinhäuser.
    Aber die City hatte sich nicht planlos zu diesem Durcheinander entwickelt, das Herz von allem war das Capitol. Und um Politik drehte sich der Reigen.
    Im Stadtteil Georgetown fühlte Shelby sich rundum wohl. In Georgetown dominierte die Universität. Jugendliche Unbekümmertheit drückte sich in den Schaufenstern der Boutiquen aus, zeigte sich an Sonnentagen auf den Gehsteigen vor den Cafeterias. Hübsche kleine Häuser schmückten sich mit bunten Fensterläden, und ehrbare Damen führten wohlerzogene Hunde an der Leine spazieren.
    Man tolerierte einander, das gefiel Shelby.
    Ihr Ladengeschäft lag in einer der engen, älteren Gassen. Im zweiten Stockwerk befand sich ihre kleine Wohnung.
    Shelby Campbell war kein Eigenbrötler. Sie liebte Unterhaltung, Publikum und Bewegung. Lärm sagte ihr mehr zu als Stille, und mit Fremden redete sie genauso gern wie mit alten Freunden. Da sie jedoch selbst über sich bestimmen und ihrem eigenen Geschmack und Rhythmus gemäß leben wollte, hatte sie als Hausgenossen nicht Menschen, sondern Tiere gewählt.
    Der einäugige Kater hieß Moische und der Papagei, der sich standhaft weigerte, mit irgendjemandem ein Wörtchen zu sprechen, hieß Tante Emma. Friedlich lebten die drei in dem genialen Durcheinander zusammen, das Shelby als ihr Heim bezeichnete.
    Von Beruf Töpferin, war Shelby gleichzeitig eine gute Geschäftsfrau. Der kleine Laden, den sie vor drei Jahren unter dem Namen Calliope eröffnet hatte und wo sie ihre Erzeugnisse verkaufte, lief ausgezeichnet. Der Umgang mit den Kunden machte ihr genauso viel Freude wie die Arbeit an ihrem Töpferrad. So war Calliope zur Belustigung ihrer Familie und dem Erstaunen vieler Bekannten unbestreitbar ein Erfolg geworden.
    Um sechs Uhr pünktlich begann der Feierabend. Von Anfang an hatte es sich Shelby zur Regel gemacht, ihre Freizeit nicht zu opfern. Natürlich kam es vor, dass sie bis in die frühen Morgenstunden an einem besonderen Stück arbeitete, Glasuren mischte und den Brennofen in Gang hielt. Aber in solchem Falle war die Künstlerin am Werk, die clevere Geschäftsfrau hielt überhaupt nichts von Überstunden.
    Am heutigen Abend jedoch musste sie wohl oder übel etwas tun, was sie gern vermieden hätte: einer Verpflichtung nachkommen. Sie löschte das Licht und kletterte die Treppe hinauf bis zur zweiten Etage. Der Kater erwachte, als seine Herrin erschien. Er streckte sich und sprang vom Fensterbrett hinunter. Wenn Shelby kam, konnte das Abendessen nicht weit sein. Auch der Vogel schüttelte seine bunten Flügel und knackte mit dem krummen Schnabel.
    „Wie geht es dir?“ erkundigte sich Shelby bei Moische und kraulte ihn hinter den Ohren, was er immer besonders genoss. Mit freundlichem Schnurren schaute der Kater zu ihr auf und drückte seinen Kopf gegen die Hand seiner Herrin. „Deine schwarze Augenklappe steht dir ausgezeichnet“, lobte Shelby und holte das Futter für Moische.
    Dabei wurde ihr deutlich, wie hungrig sie selbst war. Zum Essen hatte sich einfach keine Zeit gefunden, und jetzt musste sie sich beeilen, um nicht zu spät auf der Party zu erscheinen. Hoffentlich gibt es ausnahmsweise etwas mehr als Snacks und Salzgebäck! dachte sie. Sie hatte es ihrer Mutter fest versprochen, dass sie zu dem Empfang des Abgeordneten Write kommen würde, da half alles nichts. Deborah Campbell, ihre Mutter, verstand keinen Spaß, wenn man sein Wort nicht hielt.
    Shelby liebte ihre Mutter sehr, mehr und auf eine andere Art, als es bei Kindern im Allgemeinen üblich ist. Trotz der fünfundzwanzig Jahre Altersunterschied wurden Deborah und Shelby Campbell manchmal für Schwestern gehalten. Beide hatten leuchtendes kastanienrotes Haar. Deborah trug es kurz geschnitten, eng am Kopf anliegend. Um Shelbys Gesicht wogte eine lange, lockige Mähne, und Ponyfransen, die meist dringend einer Kürzung bedurften, fielen ihr in die Stirn. Bei Deborah Campbell wirkte diese Kombination zart und vornehm. Shelby erinnerte mit ihrem schmalen Gesicht und den betonten Wangenknochen, die sie etwas hohlwangig erscheinen ließen, ein wenig an ein verlassenes Waisenkind, das an
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