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Dornröschenschlaf

Dornröschenschlaf

Titel: Dornröschenschlaf
Autoren: Alison Gaylin
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glauben konnte, hatte er das tatsächlich gesagt.
    Nachdem Carol die Truhe wieder geschlossen und zurück ins Regal geschoben hatte, starrte sie reglos auf die Tür. Noch immer hallten Mr Klavels Worte in ihren Gedanken nach.
    Â»Du hast ein Feuer gemacht?«, drang plötzlich Nelsons Stimme an ihr Ohr.
    Sie zuckte zusammen. Nelson schlich sich immer völlig lautlos an. Doch er spionierte ihr bestimmt nicht nach, stellte ihr auch praktisch niemals irgendwelche Fragen, und wenn er es doch mal tat, kam ihr sein Verhalten eher wie ein Zeichen von Gewohnheit als wie Neugier vor. Er bewegte sich einfach derart sacht, als wolle er den Teppich nicht dadurch belasten, dass er mit seinem ganzen Gewicht auftrat.
    Trotzdem hätte sie ihn fast gefragt: Seit wann bist du schon hier? Was hast du gesehen? Dann aber bemerkte sie, dass sein Gesicht dieselbe gleichgültige Akzeptanz wie sonst verriet, wenn er nach Hause kam, und war beruhigt. »Mir war kalt.« Sie wandte ihrem Mann den Rücken zu, trat ans Fenster und blickte hinaus.
    Nach dem Grillfest bei den Koppelsons war das Licht der Abendsonne durch das Fenster in den Raum gefallen und hatte ihn in goldenes Licht getaucht. Wenn sie sich konzentrierte, konnte Carol immer noch den unwirklichen Glanz von vor elf Jahren sehen, konnte noch immer hören, wie Nelson die Treppe hinauf zu seinem Computer floh, wie er es noch heute immer tat, wenn er nach Hause kam.
    Unglaublich. Hatte Nelson Carol jemals so genannt? Bevor oder nachdem Iris verschwunden war?
    Wenn Carol ihre Augen fest zusammenkniff, konnte sie zurückkehren ins »Bevor« – zu den allerletzten Augenblicken des »Bevor«, als die goldene Sonne untergegangen war und sie selbst die Tür des Wohnzimmers geschlossen hatte, weil von draußen kühle Luft hereingekommen war. Sie konnte aus dem Fenster blicken und die beiden kleinen Mädchen sehen, die Hand in Hand über die Straße gegangen waren. Zwei Kinder allein im Sonnenuntergang, die Größere mit schimmernd schwarzem Haar wie ihre Mutter Lydia.
    Carol kniff die Augen zu. »Geh weg«, befahl sie der Erinnerung.
    Â»Was?«, fragte Nelson sie.
    Sie musste mühsam schlucken, weil ihr Mund wie ausgetrocknet war. »Nichts.«
    Tage, Wochen, Monate, nachdem Iris verschwunden war, hatte Carol hier gestanden und gewartet, und sobald das Telefon geklingelt hatte, hatte ihr Herzschlag ausgesetzt.
    Doch es hatte niemand angerufen, und sie hatte ihr Geheimnis monate- und jahrelang bewahrt, während die Suchtrupps weniger geworden waren und Lydia Neff ruhig und schwer, der Glanz in ihren schwarzen Augen trüb und ihr Haar so stumpf und grau geworden war, dass sie nur noch wie eine verblichene Kopie der alten Lydia und derart mitleiderweckend ausgesehen hatte, dass noch nicht mal Nelson ihr noch hatte in die Augen sehen können, wenn er ihr begegnet war. Zwei Jahre zuvor – drei Jahre nachdem die Polizei den Fall offiziell zu den Akten gelegt hatte – hatte Lydia die Stadt verlassen. Wohin sie gezogen war, hatte sie niemandem gesagt.
    Du hast bekommen, was du wolltest, sagte eine gehässige, leise Stimme in Carols Kopf. Keine Iris und auch keine Lydia mehr. Du hast es geschehen lassen, und du kannst es niemals wiedergutmachen.
    Â»Ich gehe ins Bett«, verabschiedete sich Nelson.
    Carol kniff die Augen noch ein wenig fester zu. »Okay. Ich glaube, ich lese noch ein bisschen.«
    Keine Antwort. Weil ihr Mann schon oben war. Carol schnappte sich das Buch, das sie gerade für ihre Gruppe las – Die Jahre der Veränderung von Abigail Thomas. Sie schlug es auf der markierten Seite auf und ließ ihre Augen über die Wörter wandern, während sie auf das Rauschen des Wassers, das Ächzen der Rohre, das Summen von Nelsons elektrischer Zahnbürste im oberen Badezimmer lauschte … Denn so talentiert sie zwischenzeitlich im Bewahren von Geheimnissen auch war, war sie noch immer eine jämmerliche Lügnerin und kam sich irgendwie ein bisschen weniger verlogen vor, wenn sie wenigstens vorübergehend tat, was sie gesagt hatte.
    Schließlich verstummten die Geräusche im Bad, und Carol hörte das leichte Quietschen der Holzdielen im Flur, das leise Scharren, mit dem die Schlafzimmertür über den Teppich strich, und schließlich das Knarzen des Betts, als Nelson unter die Decke kroch. Sie klappte ihr Buch zu, schlich die Treppe hinauf und blieb kurz oben stehen, bis
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