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Dornröschenschlaf

Dornröschenschlaf

Titel: Dornröschenschlaf
Autoren: Alison Gaylin
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besten vollkommen natürlich, sah über die Nutte in Hot Pants hinweg, die sie vom anderen Thekenende aus mit derart feindseligen Blicken maß, als wäre sie eine Konkurrentin, und kehrte vor allem unter keinen Umständen noch einmal gedanklich in die Vergangenheit zurück.
    Brenna winkte der Bedienung – einer flauschigen Blondine mit so großen grünen, gelangweilten Augen, dass sie mit all dem schwarzen Kajal, den sie darunter trug, wie eine wütende Tigerkatze aussah. »Ja?«
    Â»Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?«
    Â»Mit Zitrone?«
    Brenna war sich ziemlich sicher, dass das Angebot nicht ernst gemeint gewesen war, und deshalb erwiderte sie: »Nein, aber wenn Sie einen dieser niedlichen, kleinen Schirmchen hätten.«
    Die Augen verdrehend, wandte die Tigerkatze sich zum Gehen.
    Â»Da ist aber jemand schlecht gelaunt«, stellte der Tote fröhlich fest.
    Â»Allerdings.« Brenna hoffte, dass sie möglichst unbekümmert klang, obwohl sie von der Erinnerung an den Besuch bei Dr. Lieberman noch immer vollkommen erschüttert war. Weshalb nur hatte sie mit einem Mal daran zurückgedacht, und dann auch noch für eine derart lange Zeit? Sie litt unter dieser Störung – oder, mit den Worten ihrer Mutter, dieser »ganz besonderen Gabe« –, seit sie elf war. Menschen mit dem hyperthymestischen Syndrom konnten sich nach Einsetzen der Störung ganz genau an jeden Tag erinnern, und da alle ihre Sinne und auch ihre Emotionen an dieser Erinnerung beteiligt waren, kam es ihnen jedes Mal so vor, als durchlebten sie die Dinge noch einmal.
    Das hyperthymestische Syndrom kam geradezu lächerlich selten vor, hatte einmal ein Neurologe zu ihr gesagt. Es betraf nur eine Handvoll Menschen mit »anders geformten Hirnen« und wurde meistens von bedeutenden Veränderungen – der Geburt eines Geschwisterkindes oder einem Umzug – ausgelöst. Die Veränderung musste nicht unbedingt traumatisch sein. Obwohl sie es in Brennas Fall gewesen war.
    Das Syndrom war ganz eindeutig eine unglaubliche Sache – ein phantastisches Geschenk wie ein Riesentrampolin oder ein Pferd –, nur dass sie darüber alles andere als glücklich war. Denn sie hatte ihr gesamtes Leben ändern müssen, um damit zurechtzukommen, aber trotzdem blieben weder ihre Arbeit noch ihre Beziehungen noch sonst was, was ihr wichtig war, unberührt davon. Es gab einen guten Grund, aus dem die meisten Erinnerungen im Laufe der Zeit verblassten. Das war ihr inzwischen klar. Es gab einen guten Grund, aus dem wir die Vergangenheit immer mehr vergaßen, bis uns außer ein paar undeutlichen Bildern und verschwommenen Gefühlen nichts mehr davon blieb. Nur wenige verstanden, dass die Gabe des Vergessens etwas Wunderbares war. Brenna aber wusste es. Sie wusste es genau.
    Im Lauf der Jahre hatte Brenna ein paar Tricks gelernt, um ihre Erinnerungen weit genug in Schach zu halten, dass sich damit leben ließ. Sie sagte in Gedanken Lincolns Gettysburg-Rede auf, pikste sich mit Zahnstochern in die Handballen, biss sich kräftig auf die Lippe, alles, nur damit sie nicht zu oft in der Vergangenheit versank.
    Es war ewig lange her, seit sie zum letzten Mal während der Arbeit derart lange geistig abwesend gewesen war. Doch am besten dächte sie nicht mehr darüber nach, denn sonst kehrte sie vielleicht gedanklich zu dem letzten Mal zurück, an dem das geschehen war (am 27. Februar 2003), und dann würde sich der Tote sicher ernsthaft fragen, ob mit ihr alles in Ordnung war.
    Â»Gib’s ruhig zu, in Wahrheit war das eben dein Ehemann, stimmt’s?«
    Â»Hä?«
    Â»Der angebliche Werbetyp. Der Kerl, der eben angerufen hat.« Er stieß einen Seufzer aus. »Aber egal. War nur ein Scherz. Oder zumindest halb.«
    Brenna blickte vom Gesicht des Toten auf das Bierglas, das er in der Hand hielt, und mit einem Mal wurde ihr klar, was der Auslöser für die Erinnerung gewesen war. Sein Schlips. Er war nicht mit Hunden und Feuerwehrhydranten, dafür aber mit Katzen und Kanarienvögeln bedruckt, was ähnlich schrecklich war. »Gefällt dir die Krawatte?«, wollte er wissen.
    Â»Darf ich ehrlich sein?«
    Â»Eins nach dem anderen. Und, bist du gebunden?«
    Â»Gebunden?«
    Â»Bist du verheiratet? Kein Problem, Baby. Was in Vegas passiert, bleibt in –«
    Â»Ich bin geschieden.« Dies war die erste wahre Aussage, die ihr
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