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Dornröschenschlaf

Dornröschenschlaf

Titel: Dornröschenschlaf
Autoren: Alison Gaylin
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und sprechen wollen. Hatte die Frau kennenlernen wollen, von der »Iris endlich anständig begraben« worden war.
    Brenna war mit einer langen Fragenliste bei ihm aufgetaucht. Was hatte Adam Meade zu ihm gesagt, als er in der Nacht des 29. September heimlich in sein Zimmer eingedrungen war und ihn mit Waffengewalt dazu gezwungen hatte, sich selber anzuzünden? Was empfand er jetzt für Lydia? Trauerte er um sie? Konnte er ihr verzeihen?
    Doch dann hatte sich herausgestellt, dass Tim nicht über diese Dinge hatte reden wollen. »Ich habe gehört, dass Sie Ihre Schwester verloren haben«, hatte er gesagt, kaum dass Brenna an sein Bett getreten war.
    Â»Ich habe immer noch die Hoffnung, sie zu finden.«
    Â»Ja. So ging es mir bis vor zwei Jahren in Bezug auf Iris auch.«
    Seine Worte hängen im Raum, und sie will ihn gerade fragen: »Ist es leichter oder schwerer, wenn man sich keine Hoffnungen mehr macht?«, als ihr auffällt, dass in seinem Schoß ein weißer Umschlag liegt. Als er ihren Blick bemerkt, hält er ihr den Umschlag hin.
    Er ist versiegelt, und sie sieht Tim fragend an. »Soll ich ihn aufmachen?«
    Sein Verbandszeug raschelt, als er nickt. »Der ist von Carol Wentz. Lesen Sie zuerst, was außen auf dem Umschlag steht.«
    Er ist am 25. September abgestempelt, und auf der Rückseite hat Carol Wentz BITTE AN LYDIA WEITERGEBEN vermerkt.
    Â»Millie hat das Schreiben all die Wochen für mich aufbewahrt, ohne es zu lesen. Sie ist eine wahre Freundin, wissen Sie? Eine wahre Freundin.«
    Brenna macht den Umschlag auf und liest den Brief.
    Liebe Lydia,
    sicher hätten Sie niemals damit gerechnet, je etwas von mir zu hören, aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich Ihnen schreiben muss. Ich habe mich jahrelang gefragt, was mit Iris passiert ist, aber jetzt weiß ich Bescheid. Tim hat es mir erzählt. Ich habe die Fotos und die Karte gesehen. Aber keine Angst, sie ist an einem sicheren Ort. Ich werde es nie jemandem erzählen.
    Auch wenn Sie vielleicht denken, dass ich Sie verurteile, tue ich das nicht. Ich wende mich an Sie, weil ich auch etwas gestehen muss.
    Ich war wütend auf Ihre Tochter. Mir ist klar, dass das wahrscheinlich seltsam klingt – schließlich war sie noch ein Kind, und ich habe sie kaum gekannt –, aber am Tag des Grillfests bei den Koppelsons hatte ich ein kurzes Gespräch mit ihr, das etwas in meinem Inneren berührt hat, etwas Bösartiges und Hässliches. Später an dem Tag sah ich sie zusammen mit der kleinen Maggie Schuler an meinem Haus vorübergehen. Die beiden sahen irgendwie verloren aus und hatten sich eindeutig verlaufen. Ich habe sie beide gesehen, aber nur Maggie gerettet. Habe Maggie in den Arm genommen, in mein Haus getragen und ihre Eltern angerufen. Ich tat einfach so, als wäre Iris gar nicht da oder als wäre sie unsichtbar. Bis ich schließlich zur Besinnung kam und noch einmal aus dem Fenster sah, war Iris schon lange nicht mehr da.
    Seither habe ich ihr Gesicht eine Million Mal gesehen. Sie erscheint in meinen Träumen und fragt mich, warum. Nur dass ich ihr darauf keine Antwort geben kann. Anfangs dachte ich, es läge an den Dingen, die während dieser Zugfahrten zwischen Ihnen und Nelson geschehen waren. Aber das war nie der Grund. Ich fürchte, es gefiel mir einfach nicht, wie sie mich um einen Saftkarton gebeten hat.
    Ich bitte vielmals um Vergebung,
    Carol Wentz
    Â»Steht irgendetwas in dem Brief, was ich wissen muss?«, fragt Tim.
    Brenna blickt in sein verbundenes Gesicht. Starrt in die dunklen verlorenen Augen und sieht darin die Augen seines einzigen Kindes. »Nein, ich glaube nicht«, sagt sie.
    Endlich legte das Boot wieder am Ufer an, und eilig stolperten die Leute los. Brenna betrachtete die Passagiere, die an ihr vorüberliefen: zwei ältere Damen mit angezogenen Schultern und laufenden Nasen, die sich an den Händen hielten; einen kleinen Jungen, der sich schluchzend von seiner erschöpften Mutter Richtung Gangway ziehen ließ, ein halberfrorenes, junges Mädchen mit verlaufenem Mascara, dessen Freund ihre Schultern derart fest umklammert hielt, dass aus seinen Fingerkuppen alles Blut gewichen war. All diese Menschen hüteten Geheimnisse, jeder Einzelne von ihnen hatte schon mal Reue oder Scham verspürt und mindestens einmal etwas gemacht, von dem er sich von ganzem Herzen wünschte, er hätte es niemals getan – und sei es
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