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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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so. Keine abgebrauchten Formeln, schmerzstillenden Verse, falschen Pausen, Dummheiten und Gemeinplätze, die Abschiede häufig so erbärmlich machen. Wenn sie etwas nicht verstand, fragte sie nach. Das fand ich ganz erstaunlich.
    Als ich fertig war, nahm sie einen Keks aus der Dose und rieb die gezackten Kanten an den Fingernägeln ihrer linken Hand, sodass sich zwischen Nagel und Nagelbett ein braunes Krümelreservoir bildete. Das gleichmäßige, dumpfe Rauschen des Verkehrs mischte sich mit den Scharr- und Raschelgeräuschen der Hasen. Sonja legte den Keks auf den Tisch. Der komische Geruch wurde intensiver. Was war das nur, was war das nur?
    Jetzt hatte ich es: Brathähnchen. Wieso roch sie auf einmal nach Brathähnchen? Ich musste an meine Lieblingsteleshoppingsendung denken, bei der George Foreman seinen George-Foreman-Profigrill präsentiert. George Foreman, den mächtigen Bauch von einer Schürze umspannt, steht vor dem George-Foreman-Profigrill, auf dessen Rost eine Batterie draller, glänzender Industriehähnchen vor sich hin brutzelt. Das Fett puckert aus der krossen Haut, wirft Blasen und tropft in eine Fettauffangrinne. George Foreman schöpft das flüssige Fett regelmäßig mit einer Spezialkelle ab; wenn er grade nicht im Bild ist, genehmigt er sich hin und wieder auch einen schönen Schluck davon.
    Es war heiß und still. Sonja holte Felix aus seiner Eckeund setzte sich auf den Boden. Ihre Mundpartie zitterte, und einen Moment lang sah es aus, als würde sie anfangen zu weinen oder einen Wutausbruch kriegen. Schuft! Schwein! Verräter! Doch ihr nur vom Aufeinanderpressen der Lippen belebtes Gesicht verriet eher tiefe Erschrockenheit. Wir wussten beide, dass ich recht hatte. Sie hatte nichts mehr zuzusetzen, die Kräfte, die sie in die Erhaltung der Normalität gesteckt hatte, waren verbraucht, übrig blieben die Strapazen so vieler langweiliger Tage, die Erschöpfung nach erschöpfendem Lebenslauf und die Angst. Sie legte ihren Kopf auf die Knie und schaukelte hin und her. Was sollte ich machen? Sie trösten? Aufstehen und gehen? Noch was sagen? Und was war mit ihr? Wollte sie etwas sagen? Vorschlagen, es trotzdem noch einmal zu versuchen? Trennung auf Probe. Offene Beziehung. Gemeinsame Wohnung. Gemeinsame Wohnung auf dem Land. Kinder. Swingerclub. Telefonsex. Professionelle Beratung. Auswandern. Es sah nicht so aus.
    Dann schaute sie mich an. Wir schauten uns normalerweise nicht an, jedenfalls nicht so und nie länger als maximal eine Sekunde. Wir waren nicht dafür gemacht, uns lange und bedeutungsvoll anzuschauen. Tiefe Blicke tauschen war so lächerlich wie die Vorstellung, ich könnte ihr das Herz brechen. Oder sie meines. Ich bin kein Mann, der Frauen das Herz bricht, und sie ist keine Frau, die Männer um den Verstand bringt, das blieb anderen vorbehalten.
    Jetzt war es also vorbei. Nichts Bedeutendes, die Zeit würde es hinter sich lassen. Eine Liebesbeziehung ohne Entwicklung, ohne Schicksal, die nach jahrelangem Decrescendomehr oder weniger tonlos ausklingt. Keinen trifft Schuld. Oder beide trifft gleich viel Schuld. Jedenfalls hat der eine nicht mehr Schuld als der andere. Und doch war ich unendlich traurig, mir schien, als wäre ich noch trauriger als sie. Das Wissen um das Maß der Bedeutungslosigkeit, die man schon bald füreinander besitzt, ist nur schwer zu ertragen. Und man bekommt es mit der Angst zu tun, einer ganz schlimmen Angst.
     
    Ob irgendetwas anders gekommen wäre, wenn wir uns nicht begegnet wären? Sie gehört zu den Menschen, für die es so etwas gegeben hat wie die Zeit ihres Lebens
(The Time of my Life/​Dirty Dancing
), in der sie die ganze für sie vorgesehene Ration Glück auf einmal verbrauchte. Die schreckliche Täuschung des Glücks: dass es einem vorgaukelt, es würde immer so weitergehen. Wahrscheinlich der Grund dafür, dass sie so ungern von früher spricht; die Erinnerung ist zu schmerzhaft.
    Die Melancholie, die als düsterer Schatten über ihrer Kindheit gelegen hatte, kapselte sich mit Eintritt in die Pubertät irgendwo in der hintersten Ecke ihres Herzens oder sonst wo ein wie ein Zeck. An ihrer Zimmertür hing von einem Tag auf den anderen ein Schild: «Sorgen eintreten verboten!» Mit einem Mal brachte das kraftlose, ungesellige, wie von einer unsichtbaren Kälteschicht umgebene Mädchen die Gesichter zum Leuchten, sie trug Freude in die Welt und quietschte, wenn man sie berührte, wie frische Spargelstangen, die man aneinanderreibt. Im letzten Sommer
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