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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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Pistole sanft an den Hinterkopf.
    So knie ich an diesem warmen Herbstnachmittag
    in der gesegneten polnischen Erde.
     
    Erschießungsphantasien in Polen,
    unendlich süß und schwer,
    Erschießungsphantasien in Polen,
    voll Schmerz und Sehnsucht.
     
    Ich bin mein Leben lang unstet gewesen, ein irrlichternder Nichtsnutz,
    in die Welt geworfen und immer entwurzelt geblieben,
    und nun, ausgerechnet hier,
    in der milden roten Abendsonne,
    empfange ich meine Auslöschung aus den Händen dieser Männer.
     
    Erschießungsphantasien in Polen,
    unendlich süß und schwer,
    Erschießungsphantasien in Polen,
    voll Schmerz und Sehnsucht.
     
    Meine Tage vergehen in banaler, immer gleicher Abfolge,
    ebenso die Abende, an denen ich nur dasitze und trinke.
    Einzig der kurze Moment vor dem Einschlafen lohnt,
    der Moment, in dem die Kraft dieses Bildes mich jedes Mal von neuem überwältigt
    und ich mich ihm bedingungslos hingebe,
    ich kann nicht anders.
    Die schönste, erhabenste Sekunde in meinem Leben,
    wenn endlich der Schuss fällt und mein erlöster Leib auf die heilige polnische Erde sinkt.
    Verlockungen des Todes, die eine eigentümliche Befriedigung verschaffen. Anderes Bild (das Gleiche in Grün bzw. lustig):
     
    Die Kamera zoomt auf eine Siedlung, die in den Sechzigern versehentlich auf einer Giftmülldeponie errichtet wurde und nun zur Geisterstadt verkommen ist: Sämtliche Häuser sind geräumt, lediglich ein einzelner Mann hat nach zähem, jahrelangem Prozessieren (bis nach Karlsruhe rauf, Digga) lebenslanges Wohnrecht eingeklagt: ich, genannt «Toxic-Man», weil ich trotz der verseuchten Umgebung immer noch lebe, ein medizinisches Wunder. Was ich zum Leben benötige, wird mir alle drei Monate von einem Spezialbringdienst (Asbestanzüge, Asbestmasken, Asbestschuhe, Asbesthandschuhe, Asbestmundschutz, Asbestsackschutz) geliefert. Die Lebensmittel lagere ich in zwei überdimensionalen Tiefkühltruhen, was nicht mehr reingeht, grabe ich im kontaminierten Garten ein. Auf dem Dach meines Hauses steht eine Antenne, mit der ich Eutelsat empfange, das es eigentlich gar nicht mehr gibt. Ich empfange es trotzdem (Paradoxon). Weil mir das Wort so gefällt: Eutelsat. Oft spreche ich es stundenlang vor mich hin: Eutelsat, Eutelsat, Eutelsat. Je häufiger ich es ausspreche, desto vielschichtiger werden Klang und Bedeutung: Eutelsat, Keulensalz, Eulenkraft, Säulenkampf, Räumungsast. Eigentlichgeht es mir gar nicht schlecht, ein von trübem, nebligem Wohlbehagen begleitetes Fortschreiten. Weil mein Körper vergiftet ist, schlafe ich oft tagelang nicht, dann breche ich plötzlich wie vom Schlag getroffen zusammen und falle in tiefe Ohnmacht. Ich habe ein freundliches Wesen, mein Gesicht ist großflächig und je nach Stimmung wandelbar. Ein warziges, staubiges, mehliges, aus mehreren filzig miteinander verwobenen Schichten wulstig wucherndes Geschöpf, dessen Gewicht über die Körpergrenzen hinausschwappt. Mein von Giften, Ermüdungsbrüchen und süßsaurem Abrieb brüchiger, formloser Körper droht in einem plötzlichen Zeitvorsprung, in einen größer werdenden Hohlraum vorzustürzen und von der eigenen Masse erdrückt zu werden. In meinem Schlafzimmer hängt ein Vierfarbdruck von Muschi Stoiber bei der Gartenarbeit. Sonst besitze ich keine Poster oder Bilder.
    Regelmäßig berichtet das Fernsehen über die albinohafte Mullgestalt, ich bin eine Attraktion, eine lebende Legende. Heute ist mal wieder das RT L-Regionalfernsehen zu Gast. Für die blutjunge Moderatorin ist es die Feuerprobe, wenn sie
das
gut über die Bühne bringt, hat ihr der RT L-Chef versprochen, dann wird sie zu einem Sendergesicht aufgebaut. Sie soll an Stelle von Oli Geissen (wegen Reichtums geschlossen) bereits die kommende Ausgabe der «nervigsten Sommerhits der Neunziger» moderieren. Diese Chance will sie nutzen, unbedingt. Allerdings verlangt ihr der Spezialauftrag alles ab, sie kann den Blick kaum von meiner
Augenpartie
abwenden. Ich habe mir erst kürzlich vor lauter Langweile die Brauen weggeschnitten und mit einer Haushaltszange Fuß- und Fingernägel gezogen.Das sieht ganz schön
strange
aus. Es war gar nicht schlimm, durch die vielen Gifte bin ich fast so schmerzunempfindlich wie ein Waschbär (Waschbären gelten tatsächlich als besonders schmerzunempfindlich, habe ich extra recherchiert, damit mir keiner einen Strick draus drehen kann). Einen Zahnarzt habe ich seit vielen Jahren nicht mehr von innen gesehen, die Laute, die meinem vergammelten
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