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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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Gebiss entströmen, sind kaum zu verstehen, ein nasses, feuchtes Grummeln und Raunen. Deshalb ist der Beitrag untertitelt. Ich habe gute Laune. Anstatt die Fragen zu beantworten (Wie lange wollen Sie noch hier wohnen bleiben? Haben Sie irgendwelche Hobbys?), mache ich Sprüche, einen nach dem anderen: «Willst was gelten, mach dich selten.» – «Wer Geld hat, schickt sein Kind ins Bad, wer kein’s hat, wäscht es selber ab.» – «Den Sack schlägt man, aber den Esel meint man.» – «Das Leben ist zu kurz für ein langes Gesicht.» – «Frau am Lenker – schlenker schlenker.»
    Mein Niedergang geht in die letzte Phase. Ich erledige alles nur noch halb, bei genau der Hälfte breche ich ab: Kreuzworträtsellösen, Abwasch, Lesen, Körperpflege, Stuhlgang und Harnen. Mittlerweile zur Larve verkrümmt, schleppe ich mich mit halbgefüllter Blase vornübergebeugt durch die Wohnung, ein Stuhlverhalter, ein von Krätze und Notdurft gezeichnetes Fabelwesen, dessen einziges körperliches Vergnügen der innere Druck der abführenden Organe ist und das sich schrittweise rückverwandelt, rückverpuppt, rückeit. Ja, genau, rück-eit, rückeit ist ein gutes Wort, die festen Teile meiner Ausdünstungen lagern sich auf der Haut ab und verdicken sich zu einerSchale, braun-grauen Eierschale, aus der irgendwann nur noch mein Kopf und die Extremitäten hinausgucken. Im Ei bildet sich dickflüssige grüne Schmiere, Eigelb bzw. Eigrün. Zum Ende hin kann ich kaum noch den Kopf drehen, so zäh ist die Schmiere. Endlich ist es so weit: Ich schleppe mich mit letzter Kraft in den Garten, grabe in Schildkrötenmanier ein tiefes Loch in die Erde und lasse mich hineinplumpsen. Ein 700 0-Watt -Radiator heizt die Grube auf: sechzig Grad, einundsechzig Grad, zweiundsechzig Grad   – Zieltemperatur. Nach drei Tagen hat sich das Ei selbst ausgebrütet. Auferstehung aus Schmiere. Ich werde zum fetten Führer eines senilen Schrumpelvolks, der Honks.
     
    Drei Telefonnummern werde ich auswendig mit ins Grab nehmen, die von Onkel Friedrich gehört dazu.
    «Manstein.»
    «Hier ist Markus. Markus Erdmann.»
    «Das gibt’s doch nicht. Markus. Das ist ja ’ne Überraschung.»
    «Find ich auch. Wie geht’s denn so?»
    «Ach, du weißt ja, wie das ist. Wer sich in der Jugend viel bürstet, muss sich im Alter nicht mehr kämmen.»
    Hä? Versteh ich nicht. Astrein. Hermeneutische Geilheit.
    «Ach so, ja.»
    «Wie geht’s denn Oma und Opa? Und vor allen Dingen, wie geht es dir? Hast du gut zu tun?»
    «Tja, wie man’s nimmt. Deshalb ruf ich unter anderem an.»
    Ich erklärte ihm mein Vorhaben. Toll, er schien es toll zu finden. Obwohl «toll» in seinem Vokabular natürlich nicht vorkam. Alte Schule. Ein Buch, das seine Verdienste würdigt! Endlich konnte er mal auspacken. Ich verschwieg ihm allerdings, dass das Buch voraussichtlich nicht unter seinem Namen erscheinen würde.
    «Wenn’s dir recht ist, würde ich gleich am Montag mal vorbeikommen. So ’ne Stunde oder zwei. Vielleicht fällt uns ja gleich was ein.»
    «Montag ist schlecht. Aber Dienstag, da hab ich den ganzen Tag Zeit. Kannst dir aussuchen.»
    «Dann um elf.»
    «Alles klar. Und grüß mir die Großeltern. Ich komm sie bald mal wieder besuchen.»
    «Mach ich. Bis Dienstag dann.»
    «Tschüs, Markus.»
    Spitze! Und nun? Hinsetzen und schon mal anfangen? Skizzen. Entwurf. Plot. Synopsis. Mir fehlte irgendwie noch der rechte Zugang. Ich beschloss, bis Dienstag zu warten und mich vom sicherlich reichhaltigen Angebot Onkel Friedrichs inspirieren zu lassen. Aber ein erster Schritt war getan. Beziehungsweise zwei Schritte, eigentlich sogar drei. Im Grunde war das Ding im Kasten.
    Ich ging zum Fenster und blinzelte in den hohen Himmel. Das Licht schien noch eine Spur härter zu sein als sonst. Entspann dich mal, du Schranze. Ein letztes, wütendes Aufbäumen, der Sommer nahm noch einmal seine ganze Kraft zusammen, um am letzten Tag seiner Herrschaft möglichst viele Lebewesen mit in den Untergang zu reißen; alle Wetterdienste prognostizierten das Ende derAffenhitze innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden. Atlantiktief! Schwere Unwetter! Sintflutartige Regenfälle! Heftige Gewitter! Orkanartige Böen! Taubeneigroße Hagelkörner! Überschwemmungen! Temperatursturz ins Bodenlose! Ich trank noch ein Glas.
     
    Wie oft hatte ich nachts hellwach neben Sonja gelegen, kurz davor, sie wach zu rütteln und anzuschreien: «WAS IN GOTTES NAMEN MACHEN WIR HIER EIGENTLICH!?» Genau, warum nicht
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