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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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Zeilen nahe. Mein Freund Sven. Ich merkte, wie viel mir an unserer Freundschaft lag und wie schrecklich es wäre, wenn sie keinen Bestand hätte. Zerbrochen an schlechten Gags. Ich legte die Karte zu Jannes Zettel. Zwei Botschaften. Botschaft reiht sich an Botschaft reiht sich an Botschaft. Heute war eben der Tag der Botschaften. Unter anderem.
     
    Als ich vor Sonjas Tür stand, war die Beschwingtheit einem unangenehmen Druck im Magen gewichen. Bei lebendigem Leib ausgenüchtert. Kurz vor sechs. Da ich meinem Vorrat an Energie und Entschlossenheit misstraute, musste ich es in einer Stunde hinter mich gebracht haben. Spätestens. Aus der Wohnung drang Lärm, das Scheppern eines umstürzenden Stuhls, hastige, stampfende Schritte, Türenknallen und ein Geräusch, als würde jemand Gardinen oder Vorhänge aus den Schienen reißen. Dann ein Wutausbruch. «Scheißviecher, hört endlich auf damit. Drecksbande. Bald hab ich endgültig genug.» Die Hasen. Immer dasselbe: Sie hatte die Viecher aus dem Käfig gelassen, und jetzt sprangen sie hakenschlagend durch die Wohnung und ließen sich nicht wieder einfangen. Wum. Bum.
    Der richtige Moment, um zu klingeln. Mit einem Ruck öffnete sie die Tür und starrte mich an. Ihr Gesicht war schneckenhaft farblos, die Haare hingen schlaff ins Gesicht, und zwei kurze, harte Risse bogen ihren vor Wut bebenden Mund nach unten. Schon wieder ein neuer Leidenszug.
    «Du musst mir mal helfen, die Hasen wieder einzufangen.»
    Regelmäßig wurde ich zur Hasenjagd zwangsrekrutiert. Wieso hatte sie ihnen überhaupt Freigang gewährt, wenn sie doch wusste, dass ich gleich komme? Unhöflich. Hase: Kamerad Schlappohr, Wurzelsepp, Mümmelmann. Hasen sind fast so dumm wie Pferde, zu nichts zu gebrauchen. Hase   – Tier im Off. Paulchen, der Größere und Ältere, hatte Felix in die Ecke neben den Fernseher getrieben und sich in seinem Nacken verbissen. Er drückte seinen vor Todesangst stocksteifen Artgenossen hinunter und vollführte an ihm Fickbewegungen. Obwohl seit Jahren kastriert, spulte sich das Programm gnadenlos ab, mit oder ohne Eier.
    Schreckliches Bild aus der Kindheit: Eine überfahrene Taube ist zum Sterben in einen Straßengraben gekrochen. Der Flügel ist gebrochen und hängt verrenkt an nur wenigen Sehnen, aus der Brust sickert Blut. Eine zweite Taube kommt angeflogen, legt sich auf den halbtoten Vogel und fickt ihn. Alles, was es über Sex zu sagen gibt.
    «Jetzt reicht’s aber, Paulchen. Komm mal her hier.»
    Sonjas Stimme klang seltsam spasmisch und nasal. Sie packte das durchgedrehte Biest am Schlafittchen und bugsierte es in den Käfig zurück. Felix blieb zitternd in der Ecke hocken. Was für ein Leben. Welke Salatblätter mümmelnund sich von einer kastrierten Drecksau vergewaltigen lassen. Sonja setzte sich aufs Sofa, ich mich auf den einzigen Sessel. Auf dem Tisch standen eine entkorkte Flasche Rotwein und eine Dose mit dunkelbraunen, biologisch abbaubar aussehenden Keksen. Als ob wir seit neuestem Ökokeksesser wären. Wir starrten beide in die Ecke, in der Felix zusammengekrümmt vor sich hin zuckte. Wie der sich wohl fühlte? Wahrscheinlich fühlt er sich schon sein ganzes kleines Leben lang so. Ich sagte nichts, und sie sagte auch nichts, es war eh klar, wer dran war. Ich öffnete den Mund und hoffte, die Worte würden endlich herauspurzeln, doch es war, als habe mein Gehirn einen Zugriffsfehler, der erste Satz wollte sich einfach nicht lösen. Wie lange kann man das aushalten?
    Plötzlich spürte ich einen von flackernden Spiralen und grellen Lichtpunkten begleiteten heftigen Druck in Gesicht und Kiefer, der die Augäpfel zerquetschte. Ich verzog vor Schmerzen das Gesicht. Was war das denn nun schon wieder? Ein Anfall! So kann sich nur ein Anfall anfühlen. Ich kannte mich zwar nicht aus mit Anfällen, war mir jedoch sicher, dass es einer war. Aber was für einer? Gicht? Rheuma? Asthma? Migräne? Pumpe? Hirnschlag? Sonja tat so, als würde sie es nicht bemerken, und schenkte ein. Wieso war mir noch nie aufgefallen, dass ihre Arme mit einem dünnen, weißlichen Flaum bedeckt waren? Und irgendein komischer Geruch ging von ihr aus. Wir schwiegen und tranken und tranken und schwiegen, und die Schmerzen ließen etwas nach, und endlich gelang es mir, die Sperre zu durchbrechen.
    Ich ließ nichts Wichtiges weg und fügte nichts Unwichtiges hinzu. Mir war es fast peinlich, wie die Rede schnurrte, wie überzeugend und unwiderlegbar meine Worte waren. Wenigstens schien es mir
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