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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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Text: Toommarkt. Blitzkredit. «Financial Times Deutschland». Seit Wochen schon wurde ich mit der «Financial Times Deutschland» beliefert. Unangefordertes Probeabo, da musste ein Irrtum vorliegen. Vielleicht auch nicht. Steffen Klusmann, der amtierende Chefredakteur, wohnte früher zwei Stockwerke über mir, als er noch nicht Chefredakteur war. Vielleicht hat er sich bei einer oder zwei Flaschen schweren Rotweins an mich erinnert und in einem Anfall von Nächstenliebe dazu entschlossen, mir anonym etwas Gutes zu tun. Der Unterschied zwischen Schnapsideen, Sektlaunen und Rotweinnebel: Dem Rotweinnebel entsteigt immer etwas Gutes, Schweres, mit Substanz. Vielen Dank, Steffen! Oft nehme ich die «Financial Times Deutschland» mit ins Zombiecafé oder sonst wohin und lege sie demonstrativ auf den Tisch. Ich werde eigentlich ganz gern für jemanden gehalten, der die «Financial Times Deutschland» liest. Oder das «Handelsblatt» oder «Manager-Magazin». Jemand, der im Geschäftsleben weit obenpositioniert ist und täglich Entscheidungen von beträchtlicher Tragweite trifft. Weisungsbefugt. Das ist ungefähr so wie früher mit dem «Spiegel», den ich als Siebzehnjähriger immer im Bus gelesen habe, auf dem Weg zur Schule. FAZ hätte man mir nicht abgenommen, außerdem ist das Format nicht buskompatibel.
    Zwischen der Werbung vom «Pelzschloss Dmoch» . (ich bin aus unerklärlichen Gründen im Verteiler von «Pelzschloss Dmoch» gelandet. Ein richtiges Schloss, voller Pelze! Pelzschloss Dmoch, wirklich toller Name, fast so gut wie «Musikschule Meinhard Gnom». Falls ich jemals zu Geld kommen sollte, werde ich mir einen Zobelmantel zulegen. Pelzmäntel tragen und überall das Licht brennen lassen, stummer Protest gegen die sich ankündigende Ökodiktatur) und den Bankauszügen der letzten Monate hatte sich eine Postkarte verhakt. Ich bekomme praktisch nie Karten. Keine Karten und auch keine Briefe. Allerdings schreibe ich auch nie welche, noch nicht einmal Weihnachtsgrüße, deshalb darf ich mich auch nicht beklagen. Früher haben die Leute geschrieben, als ob’s kein Morgen gäbe, allein der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller füllt Dutzende Ankleidezimmer. Goethe hat bestimmt ein Achtel seines Lebens mit Briefeschreiben verbracht, ein Wahnsinn schon wieder alles. Auf der Vorderseite der Karte war ein Motiv der Harzer Brockenbahn. «Wernigerode, das Harzer Herz». Aha. Vielleicht verschollene Verwandte, die mir eine überraschende Erbschaft in Aussicht stellten. Ich drehte die Karte um. Tatsächlich, Omaschrift, ganz klein und eng und schief und fast so unleserlich wie die von Janne.
     
    Lieber Markus,
    Du erinnerst Dich sicher nicht mehr an uns. Das letzte Mal haben wir uns gesehen, als Du noch ein Kind warst. Da haben wir Dich und Deine Großeltern besucht, Weihnachten 1983.   Du hast Dich sehr gefreut über das Mondauto, das Dir Onkel Otto geschenkt hat. Wir haben oft an Dich gedacht, aber leider haben wir uns mit den Großeltern zerstritten, und daher ist auch der Kontakt zu Dir abgerissen. Weswegen ich Dir schreibe: Onkel Otto ist letzten Monat gestorben, und gestern war die Testamentseröffnung. Markus, setz Dich hin, falls Du noch nicht sitzt: Du erbst seine vier Sägewerke! Das wollte ich Dir nur schon mal vorab sagen, Du erhältst in den nächsten Tagen noch offiziell Post vom Notar. Ich hoffe, es geht Dir gut. Komm uns doch bald mal besuchen! Du hast ja in Zukunft viel zu tun hier.
    Liebe Grüße aus Wernigerode,
    Deine Tante Gertraud
     
    Sägewerksmogul Erdmann. Stahlkönig. Eigene Tankerflotte. Billig-Airline. Milliardär und Weltraumtourist. Schön wär’s. In Wahrheit stand auf der Karte nämlich ganz was anderes:
     
    Lieber Markus,
    mir geht’s scheiße, ich brauch mal Abstand. Ich hau für ein paar Tage oder so ab, wohin, weiß ich selber noch nicht, wahrscheinlich Ostsee, Niendorf. Vielleicht lichten sich die Dinge dann etwas.
    Ich hab Schiss. Drück mir die Daumen.
    Melde mich, wenn ich wieder da bin.
    Dein Freund Sven
     
    Sagenhaft, dass ich nach so vielen Jahren seine Handschrift nicht kenne. Zu Goethes Zeiten war’s umgekehrt, da kannte man jeden noch so kleinen Huckel in der Schreibe, aber den ganzen großen Rest nicht. Lieber Markus. Dein Freund Sven. Das klang schön. Eigentlich sollte man alle Karten, die mit
Hallo
beginnen, ungelesen wegschmeißen. Und Mails und SMS ungelesen löschen. Und Grüße nicht erwidern. Hallo! Alles gut? Geht’s noch? Irgendwie gingen mir die
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