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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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ihrer Schulzeit, als sie die großen Ferien gemeinsam mit ihrer besten Freundin in Italien verbrachte, liefihr Glück in einem einzigen, unauslöschlichen Bild voller Herrlichkeit zusammen.
    Aber wie schnell dann alles ging. Als sie das Studium aufnahm und ihre erste sturmfreie Bude schon keiner richtig stürmen wollte. Als ihre alte Clique sich in alle Himmelsrichtungen zerstreute, wie sich Jugendcliquen auf der ganzen Welt in alle Himmelsrichtungen zerstreuen, wenn man plötzlich offiziell für erwachsen erklärt wird und es dafür noch viel zu früh ist, man ist doch noch gar nicht so weit!
    Und plötzlich ist es vorbei, man wird zum Gespenst, vom Licht der Zukunft abgeschnitten, ein nasses Streichholz, an dem man ewig streichen kann, es brennt einfach nicht. Man kann es zunächst gar nicht fassen! Die Kraft und der Zauber und die satten Farben, das alles kann sich doch nicht einfach aufgelöst haben! Die vielen schönen Farben! Irgendein Schelm muss den Tuschkasten verlegt haben. Und das Glück? Vielleicht hat es sich hinter einem Strauch versteckt, um unvermittelt herauszuspringen und sich fröhlich pfeifend wieder einzuhaken. Doch das Glück denkt gar nicht daran, es hat sich längst woanders untergehakt. Das kann doch nicht sein, nach Adam Riese nicht und nach anderen Rechenmodellen auch nicht. Ein schönes heißes Bad nehmen, das ist es, baden und so lange sitzen bleiben, bis einem die Lösung einfällt! Doch am Ende hockt man nur ganz verschrumpelt im eisekalten Wasser und holt sich den Tod. Auf den kleinen weißen Glückskekszetteln steht auch nichts, und vor einem liegt jetzt nur noch der lange, dunkle Tunnel, marode und einsturzgefährdet von den vielen Schwermütigentransporten, die ihn schon passiert haben.
    Der Virus, der so viele Jahre geduldig gewartet hat, entfaltet seine volle Wirkung erst jetzt, die glanzlose Gegenwart wird von keiner Zukunft mehr abgelöst und erneuert sich ewig aus sich selbst heraus. Was bleibt, ist die Erinnerung an die kurze Saison des Glücks, in die man sich einnistet wie in einen unvergänglichen Traum. Man hat die Vergeblichkeit des Lebens hingenommen und doch insgeheim gehofft, dass noch etwas kommt.
    Was bleibt, ist ihr Name: Sonja Meyer.
    Ich setzte mich neben sie und legte meinen Arm um ihre Schulter und war mir nicht sicher, ob das richtig war oder falsch. Ich war mir auch nicht mehr sicher, was von dem, was ich gesagt hatte, richtig war und was falsch. Wir schauten uns an. In ihrem Gesicht spiegelte sich der Widerschein von etwas Fernem, keine Täuschung und keine Lüge versperrte mehr die Sicht.
    Unser beider Leben war angehalten.
    Wir saßen noch eine Weile so da, dann nahm sie meine Hand weg und tat den Hasen zurück in seinen Käfig. Zeit für mich zu gehen.
     
    Es war kurz vor neun. Ich ging zu Fuß nach Hause (halbe Stunde). Schwere Wolken waren aufgezogen, der Donner grollte und kam schnell näher. Es war auf einmal Nacht geworden, am schwarzen Himmel blitzte es. Ich versorgte mich am Kiosk mit Bier, Jägermeister und Zigaretten und setzte mich in den Sandpark. Ein riesiger, tiefschwarzer Wolkenberg türmte sich über mir auf, starke Böen fegten über den betonharten Boden. Dann knallte es, krachender, hoher, kreischender Donner, fast zeitgleich mit der ungeheurenEntladung, einem gewaltigen Leuchten, einem Blitz aus unglaublich hellem Licht, der vom Himmel zur Erde oder von der Erde zum Himmel fuhr. Ein Moment völliger Stille, dann brachen die Wolken, es dröhnte wie eine Panzerarmee. Ich fühlte es auf mich niederprasseln, erst warm, dann immer kühler. Das Wasser lief in Sturzbächen zur Straße hinunter. Der Regen tropfte von meiner Nasenspitze, und bald klebten die Kleider an mir, als hätte ich einen Fluss durchschwommen. Ich übersiedelte ins Buswartehäuschen, man muss schließlich auch an die Zigaretten denken. Der Geruch nasser Erde und nassen, mit Regentropfen vermischten Staubs stiegen mir in die Nase, und der Wind wehte nicht mehr heiß in den Rücken, sondern kühl ins Gesicht. Es regnete und regnete und hörte nicht mehr auf, und alles Lebende und Wachsende um mich herum seufzte und erholte sich. Ein Staunen, dass es endlich vorüber war und jemals hatte geschehen können. Ich schaute auf die andere Straßenseite, da lag es schon, ich konnte es sehen. Alles so schlicht und wahr, die schlichte Wahrheit, lebendig und zum Greifen nah. Mein Gesicht wurde ganz heiß, ich war ins Leben abgetaucht, mein einziges Leben.

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