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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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mal zur Abwechslung in Gottes Namen? Und was machten wir da eigentlich? Seit vielen Jahren. Was hatten wir vor? Noch vor? Oder ursprünglich mal vorgehabt? Und wie um Himmels willen sahen wir eigentlich aus? Zwei, die sich durchgemogelt haben und nun in einem von beiderseitiger Rücksichtnahme und Schonung lebenden Quatsch hängengeblieben sind. Die Liebe hat sich in die Niederungen des Alltags verabschiedet, und jetzt verrinnen die Tage in trostloser Eintönigkeit, im großen, nichtssagenden Leiden, in dumpfem Warten und panischem Erkennen, wie spät es schon ist. Wir haben nichts gegeben und nichts gefordert, übrig geblieben sind nur wir selbst und unsere Verweigerung. Achselzucken, leises Schnaufen, noch leiseres Gefurze. Bäuerchen.
    Knallt euch doch wenigstens mal eine! Ein kräftiger Tritt in den Unterleib tut’s auch. Oder wenigstens vom Fahrrad oder vom Gartentraktor schubsen. Das könnte die Lösung sein: dem lächerlichen Kleinkrieg, dieser Karikatur des Kampfes, eine Absage erteilen. Im Feld ist man etwas wert, da wird das Herz noch gewogen! Ein offenes Gefecht, das die gemeinsame Vergangenheit rückstandsfreitilgt, tage- und nächtelanges Prügeln, Ringen, Beißen, Schlagen, Kratzen, Haareausreißen, bis man blutend, grün und blau, vor Kraftlosigkeit zitternd, auf allen vieren durch die Wohnung kriecht und übereinander herfällt, um sich ein letztes Mal zu vereinigen. Es wegbumsen. Die schwere, schwere Last verbrennen. Interessante Idee eigentlich, kann man sich zumindest gut vorstellen. Doch dann hatte ich mir wieder nur auf die Zunge gebissen und mich auf die andere Seite gerollt.
     
    Ich musste ihr alles sagen. Heute. Gleich. Sofort. Anrufen und sagen, dass ich nicht erst um sieben komme, sondern mich sofort auf den Weg mache. Dass es etwas zu besprechen gibt, etwas, das keinen Aufschub duldet.
    Ich putzte mir die Zähne. Mundgeruch schwächt und hemmt. Man kann schlechten Atem in Wahrheit auch übers Telefon riechen. Der Hörer war so fettig, dass er sich nicht mehr zwischen Schultern und Kopf klemmen ließ. Auch die Ladestation war fettig. Und schmutzig. Und angelaufen. Feinstaub, ungewaschene Hände, Haare, Asche, Hunde, Cola Rum, Ohrenschmalz und wer weiß was noch hatten sich festgefräst. Elektroschrott, ein Torso, ein Wrack, eine Ruine, ein irres Gewirr aus Fett, Plastik, Drähten und angelaufenen Kontakten (Grünspan?). Wie es wohl im Hörerinneren aussah? Hatte ich jemals die Akkus gewechselt? Wie viele Millimeter standen die Tipptasten/​Knöpfe/​Schalter/​Stöpsel/​Nupsis vor? Die Zwei und die Neun gingen schwerer als die übrigen Zahlen, und die Rautetaste ging praktisch gar nicht. Die Sofalehne hatte einen kleinen Riss, das war mir nochgar nicht aufgefallen. Aus einem kleinen Riss wird irgendwann ein großer, das liegt in der Natur der Sache. Und ein Riss legt Eier: neue Risse, die auf die Sitzfläche übergreifen und hinüberwandern von einer Lehne zur anderen. Das ganze Möbel ein Mopp, ein Sofamopp. Langsam wurde es lächerlich.
    Tüüüüt.
    Vielleicht war sie nicht da oder ging nicht ans Telefon.
    Klick.
    «Meyer.»
    «Erdmann.»
    «Ach, du bist es. Was hatten wir eigentlich gesagt, kommst du zu mir oder ich zu dir?»
    «Ich zu dir.»
    «Wann denn. So um sieben?»
    «Nee, nicht erst abends. In einer halben Stunde. Wir müssen auch mal reden.»
    «Wie reden? Über was denn? Ist irgendwas?»
    «Sag ich dir dann.»
    «Was Schlimmes?»
    «Wie man’s nimmt.»
    «Wie, kannst du nicht sagen? Was Schlimmes oder nicht, das kann man doch wohl sagen?»
    «Pass auf, ich beeil mich. Bis gleich.»
    «Worum geht’s denn überhaupt?»
    «Mann, Sonja, ich beeil mich. Okay?»
    «Ja, dann beeil dich aber auch. Bis gleich.»
    Es gab nichts vorzubereiten, ich hatte seit Jahren alles im Kopf.
    Bevor ich die Wohnung verließ, sortierte ich nochschnell die Post. Die Post von gestern und die Post von heute. Berge. So viel Post für eine Person! Da kriegt der Bote ja einen Leistenbruch (unwahrscheinlich, was mir täglich ins Haus flattert, obwohl ich mich so defensiv wie möglich verhalte und niemals etwas bestelle. Erstaunlicherweise wurde ich zur Abwechslung mal nicht aufgefordert, irgendwelche Zähler abzulesen. Dafür kündigte sich der Schornsteinfeger für den kommenden Donnerstag an. Schornsteinfeger sehen lustig und harmlos aus, sind in Wahrheit aber kreuzegoistische Böcke, die mit Zähnen und Klauen ihr Schornsteinfegermonopol von achtzehnhundertschießmichtot verteidigen. Weiter im
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