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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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fanden.
    „Komm herunter!“, rief ich, denn Geräusche von drinnen übertönten das nächtliche Schwanken und Schnaufen Venedigs und den eisigen Wind. Es waren die Geräusche grober Hiebe, von zersplitterndem Holz. Æmelie ließ mich los, um zur Tür herumzufahren, ich wollte nach ihr greifen, verlor den Halt am Fensterbrett – mit einem raschen Schritt wollte ich mich mit dem Rücken gegen die Hauswand strecken, um meinem Körper keinen Drall nach vorn und unten zu gewähren, doch meine Füße rutschten vom schmalen, überfrorenen Sims, als meine Ohren Æmelies gellenden Schrei hörten. Ich fiel – ich fiel und wusste, dass wir uns in nur wenigen Augenblicken wiedersehen würden, in irgendeinem fernen, unwahrscheinlichen Paradies, in das auch Wissenschaftler gelangten. Doch dann prallte ich auf dem Eis auf, die Scholle knackte bedrohlich, mit einem abscheulichen Geräusch entstand ein Riss, und etwas anderes knackte an meinem Gürtel. Als bäte ich um ein Omen, was das Schicksal Æmelies anging, riss ich Ynge heraus – beim Sturz hatte das Porzellan ihres Kopfes einen weiteren, tiefen Riss erhalten, der sich vom Hinterkopf, an dem kostbare, seidige Haare befestigt waren, bis zu einem ihrer Augen zog. Grausig sah der Sprung aus. Grausig waren die Geräusche aus unserem Zimmer. Æmelie schrie, ich sah ihr Gesicht am Fenster, sah, wie ihre Finger den Rahmen umklammerten, als sie versuchte, mir einfach mit einem verzweifelten Sprung zu folgen. Doch irgendetwas musste sie bereits gepackt haben, mit einem grässlichen, reißenden Geräusch verschwand sie vom Fenster. Ihr letzter Blick zu mir herunter war leer, ihr Schrei erstarb. Nein …
    Ich hätte mich geweigert zu akzeptieren, was ich sah, hätte nicht in dem Moment, in dem ich ihre Stimme zum letzten Mal hörte – mit diesem sterbenden, seufzenden Schrei, dessen Konsequenz mein Geist sich zu erfassen weigerte –, Ynge ihre himmelblauen Augen geöffnet. Im Dunkel der Nacht schienen sie eine spiegelnde Schwärze zu sein, als sie mit Æmelies Stimme sprach: „Sie ist tot, Naðan. Lauf weg!“

    Wie kann man begreifen, dass die, neben der man Nacht für Nacht eingeschlafen ist, deren warmen Körper man stets als Teil seines Lebens geschätzt hat, nun fehlt? Manchmal frage ich mich: Tut es weh, weil ich sie vermisse?
    Oder tut es so schrecklich weh, weil ich den Schmerz empfinde, den ihr Fehlen der Welt verursacht? Trauere ich um mich, der ich nun so schrecklich leer und unvollständig bin, oder um sie, weil sie nun fort ist, ihrer Existenz beraubt, all der wunderbaren und mannigfachen Möglichkeiten, die sie wahrgenommen hätte?
    Hätte die Welt nicht auf einen erfolglosen Künstler und eine sprechende Puppe verzichten können statt auf eine geniale, schöne, beherzte Frau wie sie? Wenn sie zuerst geklettert wäre, dann wäre sie gestürzt und mit einem verstauchten Fußgelenk auf einer Eisscholle gelandet, die nicht brach.
    Dann wäre ich unter den Hieben der Eindringlinge zerbrochen, und Ynge desgleichen, aber die Welt wäre vielleicht ein Stück heiler, müsste nicht um Æmelie von Erlenhofen trauern.
    Wo ist sie, wenn sie nicht mehr hier ist? Kann man einfach zerbrechen und aufhören zu sein? Ist sie in ein Paradies gelangt, wie uns die Religionen stets trösten – oder entspringt nicht auch diese Vorstellung nur einer trauernden Sehnsucht? In welches Paradies gelangen Wissenschaftler?
    Ich stelle mir vor, ich gelange auf einen alten Speicher, wenn ich sterbe. Ich stelle es mir vor, seit Ynge zu mir spricht. Dort sind all die alten Schaukelpferde, all die verstaubten Plüschbären. All die Brummkreisel und Murmeln und Springteufel und verstummten Spieluhren mit den kleinen Tänzerinnen, und da sind auch die Puppen mit ihren glänzenden Augen, und ich nehme Ynge dann auf den Schoß, und wir setzen uns genau neben sie . Das werden wir tun, und dort lässt man uns dann in Ruhe.

    Die Polizisten waren äußerst aufgeregt. Ich kannte einige der weniger ausgefallenen Schimpfworte, die sie benutzten, doch es dauerte einige Zeit, bis sie jemanden auftrieben, der Deutsch mit mir sprach. Es war ein sehr schlechtes Deutsch, er konnte aber einige Flüche erstaunlich fehlerfrei aussprechen.
    „Scheiße, Scheiße, die Sache mit deine Frau, Signor!“, pflegte er zu sagen, und ich wusste das zu schätzen.
    Ich hielt die Puppe Ynge an mich gedrückt und strich mit meinem Daumen über den Riss in ihrem Kopf, als könne ich ihn im Laufe der Zeit wegwischen wie einen Streifen
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