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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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etwas mehr Komfort und Vertrauenswürdigkeit erwartet hätte. Es waren Geräusche, als stolpere jemand immer wieder über ein und dieselbe Stufe, und ich kannte diese Stufe, sie ragte auch tagsüber heimtückisch im schlecht erleuchteten Flur auf und ließ den Unvorsichtigen stolpern, vor allem, wenn er gleichzeitig mehrere unhandliche Dinge trug.
    Æmelie hatte sich aufgesetzt und drückte ihre alte, am Hinterkopf bereits gesprungene Puppe Ynge an sich, eine Marotte, die sie noch aus ihren einsamen Kindertagen behalten hatte.
    „Sicher nur ein Betrunkener, der nach Hause kommt“, brummte ich, denn, wie gesagt, unser Gästehaus war nicht die feinste Adresse in Venedig.
    „Es hört sich gleichmäßig an. Wie ein Automat“, wisperte sie. Aus einem anderen Zimmer schrie ein Mann auf Italienisch, ich hörte verschiedene unschöne Worte heraus, die mir zu meinem Leidwesen bekannt waren, doch Æmelie zerrte fortwährend an mir.
    „Steh auf!“ Die Dringlichkeit in ihrer Stimme ließ mich gehorchen, töricht stand ich da in meinem Nachthemd. Ich nahm meinen Spazierstock, fühlte mich unangemessen ausgerüstet und schrecklich unbekleidet.
    „Ich gehe nachsehen, Liebste!“, seufzte ich und tastete im bleichen Licht des Mondscheins, das der Schnee durch die Ritzen der Fensterläden widerspiegelte, nach der Petroleumlampe auf dem Nachttisch. Den Stock klemmte ich mir unter den Arm, um nach Streichhölzern zu tasten, doch Æmelie seufzte pragmatisch und öffnete mit einem Ruck die Fensterläden. Das an das Schattenspiel einer Photographie erinnernde Licht der Nacht fiel herein und erlaubte ihr, einige Skizzen zusammenzuraffen.
    „Was machst du denn?“
    „Hörst du das denn nicht?“, fragte sie atemlos, und in ihren Augen glänzte die Angst. Immer noch waren stolpernde Geräusche im Flur. Mehr nun, als sei der ganze Flur voll von taumelnden, betrunkenen Gestalten. Eine Tür öffnete sich, der Beleidigungen schreiende Mann trat in den Korridor – und erst als er einen schrecklichen, gepeinigten Laut von sich gab, wurde mir klar, dass Æmelie recht haben musste.
    „Durch das Fenster?“, flüsterte ich, mit einem Mal schien mein flatterndes Herz meinen ganzen Brustkorb auszufüllen und drohte, mich zu ersticken. Dann endete der Schrei des Mannes im Flur mit einem schnappenden Geräusch.
    Æmelie blickte hinaus, aber natürlich sah sie dort das, was wir immer sahen, wenn wir hinausblickten: Ein Stockwerk unter uns gähnten ein schmutziger, gefrorener Kanal und die ungepflegte, vom kalten Wind arg mitgenommene Hauswand.
    „Ich … ich weiß nicht. Wenn wir stürzen und einbrechen, werden wir sterben“, zitterte ihre Stimme, mit einem Mal zaghaft, zu mir herüber.
    „Wenn wir den Flur betreten …“, entgegnete ich, „es hört sich so an, als stürben wir dann auch!“
    „Klettere voraus!“, bat sie, wobei sie rasch die Hose ihres Anzugs anzog und das Nachthemd an der Hüfte zu einem Knoten band. „Dann sehe ich, wo du hingreifst.“ Schließlich hielt sie mir noch Ynges Porzellanleib entgegen.
    Ich schluckte, befestigte den Spazierstock, mit dem ich mich notfalls zu wehren wusste, am Gürtelband meines Nachthemds und zog ebenfalls eine Hose an. Die Puppe Ynge steckte ich in meinen Gürtel.
    Im Flur war es ruhiger geworden. Das aber, so wurde mir klar, musste daran liegen, dass die tumben Schritte gelernt hatten, die tückische Stufe zu überwinden. Nun versuchten sie sich gar an einer Türklinke, der Türklinke unserer verriegelten Zimmertür, die in dem kleinen Zimmer keine zwei Meter von uns entfernt war. Ein frostklirrendes Messer schnitt mitten in die riesige, zitternde Luftblase, zu der mein Herz geworden war und hinterließ einen kleinen Hautbeutel, der des Schlagens nicht mehr mächtig schien.
    „Nun gut. Du musst mir direkt folgen!“, flüsterte ich, zwang mich zu Entschlossenheit und schwang mich auf das Fensterbrett. Ich sah hinunter. Es war eiskalt unter mir – und wir würden sterben. Wir würden hinabstürzen, einbrechen, versinken und im Frühjahr als aufgedunsene Leichen wieder zum Vorschein kommen, und die Puppe Ynge wäre vermutlich das, was von uns noch am besten erhalten sein würde.
    Zusammen mit dem steinernen Fensterbrett ergriff ich den letzten Rest Mut, der in mir war. Ich küsste Æmelie nicht – wie hätte ich auch ahnen können, dass es die letzte Gelegenheit war?
    Ich ließ mich hinab, sie hielt meine Armgelenke, während meine Füße auf einem schmucklosen Gesims Halt
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