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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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Fenster. Das Pferd setzte sich in Bewegung, die Hufe klapperten, als wollten sie, dass ich ein Lied dazu sänge. Aber ich tat es nicht. Ynge summte ein leises Gutenachtlied, aber es harmonierte nicht mit dem Walzertakt zwischen Kopfsteinen und Hufeisen.

    Ich verstand, dass sie mich für einen Idioten hielten. Solche Worte waren mir in fast jeder Sprache der bekannten Welt geläufig, und wenn nicht, verstand ich sie intuitiv. Natürlich kapierten sie nicht, warum ich, ein erwachsener Mann, eine Puppe auf dem Arm hielt. Aber sie sprach mit der Stimme meiner Frau, deren Blut den Boden und viele der Gegenstände, die darauf verteilt lagen, bedeckte. Ich hätte mir nie verziehen, wenn Ynge etwas zugestoßen wäre. Ich hielt sie so, dass sie alles sehen konnte. Es roch seltsam – hinterließ der Tod solch einen Geruch?
    „Signor, wenn du uns sagen könnte, was fehlt von den Sachen der Signora Dottoressa?“, hatte der Polizist in seinem gebrochenen Deutsch gefragt, und ich hatte bereits festgestellt, dass außer unseren Kleidern beinahe alles mitgenommen worden war – meine lederne Tasche und meine Staffelei jedoch klemmten in einer Nische zwischen dem kleinen, altersschwachen Tisch und der Wand, wo ich sie hingestellt hatte. Auf dem Boden, im Blut, lag Kreide. Nicht meine schwarze, mit der ich zeichnete, sondern Æmelies weiße Schulkreide, mit der sie während ihres Vortrags auf die Tafel des großen Kongresssaales geschrieben hatte.
    „Was soll ich sehen?“, fragte ich Ynge. „Wo ist dein Körper, Æmelie?“
    Als die Puppe nicht antwortete, nahm ich zunächst Æmelies Zylinder, der vom Hutständer gefallen war, auf und strich mit dem Daumen über die teure, feine Seide. Ich setzte ihn auf, denn in dem seltsamen Zustand, in dem sich mein Geist befand, schien dies der geeignete Platz dafür, dann öffnete ich meine Umhängetasche und zog vorsichtig meinen Notizblock hervor. Ich schlug ihn auf – da war Æmelie, trug den Zylinder, den ich gerade aufhatte, und den ernsten schwarzen Anzug, der sie so klein, zierlich und schlank machte. Sie sah mich ernst an und zeigte mir etwas mit dem Stock, den sie in der Hand hielt.
    Æmelie. Die Erlenhofen-Zelle. Ich nahm den Zylinder wieder ab.
    „Sie haben dich deshalb getötet, nicht wahr?“, flüsterte ich in Ynges kleines, muschelartiges Porzellanohr. Eine seltsam heiße Träne rann mir aus dem rechten Auge, und ich konnte sie gerade noch wegwischen, bevor sie hinab tropfte auf die Zeichnung. Hastig klappte ich den Skizzenblock zu.
    War sie tot? War dieses Bild, die hastigen Striche auf dem Papier, das, was von ihr übriggeblieben war?
    Wie konnte das sein?
    Der Polizist sah mir wortlos zu. Der Tatort war bereits dokumentiert, und er ließ es zu, dass ich wahllos Dinge vom Boden aufnahm, auf dem Bett aufreihte und betrachtete.
    Sie war tot, und die Dinge, die sie einst mit Leben erfüllt hatte, waren jetzt leblos. Der Zylinder nur ein Hut. Der Anzug nur ein Kleidungsstück. Das Blut … das Blut war nur eine Flüssigkeit.
    Aber die Skizze war mehr. Ich hängte mir die Tasche um.
    „Ich werde ein richtiges Bild daraus machen, Æmelie.“
    „Ynge.“
    „Ein Gemälde. Æmelie von Erlenhofen auf dem Kongress der … ach, was schert es mich, wie der hieß?“ Ich lachte auf, ein bitteres, durchdringendes Geräusch, das den Polizisten erschrecken ließ.
    „Signor?“, kam eine Stimme aus dem Flur. „Könnte du mitfahren zu der Dottore Belluni?“
    In meine Ledertasche knüllte ich ein Hemd, ein zweites zog ich an und ersetzte damit das Nachthemd, das ich noch unter dem Mantel trug. Ich stopfte auch dieses zu meinen Farben und den Döschen mit Kreide, Kohle und Bleistiften. Eine Hose dazu, meine Taschenuhr. Ich fasste an den Zylinder auf meinem Kopf, vergewisserte mich, dass er da war.
    „Ich weiß immer noch nicht, was du mir zeigen wolltest, Ynge“, sagte ich eingeschnappt.
    „Warte nur“, antwortete sie endlich.

    Den Weg zu Dottore Belluni legten wir wieder mit der Polizeikutsche zurück. Ich sah nicht hinaus – Venedig war mir gleichgültig geworden, seine gefrorenen Kanäle, seine malerischen Brücken und Balustraden und all dieses dumme Zeug. Warum hatte es jemand als zweckmäßig erachtet, eine Stadt auf einer modernden Lagune zu errichten? Warum hatte es jemand als zweckmäßig erachtet, für eine Galvanische Gasbatterie meine Frau zu ermorden? Wider Erwarten regte sich Hoffnung in mir, obgleich Vernunft und Gefühl dagegenhielten. Vielleicht hatte man Æmelie
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