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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
Autoren: Helen Schulman
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schickte ihr den Link. Ohne dass jemand davon erfuhr, auch er selbst nicht – ach, die Segnungen der Online-Obskurität! –, schaltete Liz sich nun seit einem Monat täglich ein. Inzwischen war sie nach seinem Blog genauso süchtig wie damals als Collegestudentin nach General Hospital . Das meiste war langweiliges Zeug (seine Arbeit in einer Werbeagentur), manches schmerzlich (er träumte immer noch davon, Romanschriftsteller zu werden), manches peinlich-packend (seine Sexfantasien über Transvestiten). Es war dermaßen intim, Daniel Feigenbaum so nahe zu sein – näher, als sie ihm im wahren Leben jemals gewesen war, selbst als sie nackt beieinandergelegen hatten –, dass Liz nach ein paar Wochen regelrecht Mitleid mit ihm hatte, obwohl er im College nicht eben nett zu ihr gewesen war. Verabredungen zum gelegentlichen Sex, ein paar ziemlich debile Gespräche über Thomas Pynchon, Cashew-Chili-Dinners. Und als sie sich dann in jemanden verliebt hatte, der tatsächlich mit ihr ausgehen und ihr Freund sein wollte, hatte Daniel Feigenbaum in der Literaturzeitschrift der Magisterstudenten eine fiese kleine Geschichte über sie veröffentlicht.
    Würde Liz nach all den Jahren Daniel Feigenbaum heute zufällig auf dem Flughafen oder im Lebensmittelgeschäft begegnen, würde er ihr bestimmt nicht verraten, welchen Transvestitenporno er sich regelmäßig herunterlud, falls er sich überhaupt noch an sie erinnerte. Und doch stellte er alle diese Informationen ins Netz, zur allgemeinen Verfügung. Seine Entscheidung. Wieso kam sie sich dann aber so vor, als würde sie sich durchs Fenster in seine Wohnung schleichen und seine Schubladen durchwühlen? Vom Durchforsten seiner Tagebucheintragungen – sie hatte sie Wochen, ja Monate zurückverfolgt – bekam sie richtig Zahnschmerzen, wie früher, wenn sie zu viele Süßigkeiten gegessen hatte. Und doch ertappte sie sich bei all dem privaten Zugang zu den inneren Gefilden von Daniel Feigenbaums Herz bisweilen dabei, wie sie im Geiste mitfieberte und ihm Erfolg wünschte. Ihre neu entdeckte Süchtigkeit nach dem Feigenbaum-Blog musste sie Richard erst noch gestehen, dem es bestimmt herzlich egal wäre, oder besser noch Stacey, die manchmal so schnell kapierte, was mit ihr nicht stimmte, dass es Liz schon fast unheimlich war. Diese Marsha, die Mutter der kleinen Kathy, war vielleicht jemand, mit der sich gut reden ließ – Liz konnte ihr ja die Kurzfassung ihrer Internet-Schnüffelei erzählen, dann konnten sie bei einer Tasse Tee über ihre fixe Idee lachen. Im Plaza hatte Liz schon immer mal übernachten wollen. Sie hatte auch ihre Eloise-Fantasien, so wie andere.
    »Ausgang für die Busleute«, verkündete Kevin, der rothaarige, grau bejackte, einen Meter achtundneunzig große Sicherheitsmann, während etwa zehn Kinder unterschiedlicher Größen und Altersstufen im Gänsemarsch aus der Schule kamen und von zwei Hilfslehrerinnen zu zwei wartenden gelben Minibussen geleitet wurden. Sämtliche Kinder in der Schule wussten haargenau, wie groß er war. »Er ist eins achtundneunzig«, johlten sie und deuteten auf ihn. Dann lächelte Kevin nachsichtig. Der Kerl war ein wahrer Hüne. Immer an Halloween zog er gutmütig eine Oversize-Version des grauen Faltenrocks der Schuluniform in der Größe eines Sonnenschirms an, die enormen, fleischigen nackten Waden im scharfen Wind mit Gänsehaut überzogen.
    Während Kevin seine Ankündigung brüllte: »Vorschulkinder-Abholung!«, begannen die Grüppchen wartender Erwachsener sich sofort zu vermischen. Trichterförmig wie Sand in einem Stundenglas strömten sie auf die beiden roten Türen zu, durch die die Kinder das Gebäude klassenweise verlassen und in Reihen auf dem Gehweg Aufstellung nehmen würden. Liz stand auf und streckte sich, zog beim Aufstehen mit einem Ruck ihre tief sitzenden Jeans hoch und strich die hübsch bestickte indische Bluse glatt – aus weichem blauem Samt mit winzigen Spiegelchen. Sie hatte das Teil aus den Tiefen ihres Kleiderschranks zutage gefördert, nachdem sie letzthin in einem schicken Schaufenster auf der Madison Avenue dessen genaues Gegenstück gesehen hatte, mit einem sündhaft teuren Preisschildchen dran. Sie fühlte sich hübsch in dieser Bluse, hatte sich vor drei Jahrzehnten schon hübsch darin gefühlt. Ein Wunder – sich immer noch hübsch zu fühlen. Sie drehte ihr langes braunes Haar zu einem lockeren Knoten zusammen und schwang sich ihre Reisetasche über die Schulter. Cocos Barbie-Köfferchen
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