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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
Autoren: Helen Schulman
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Kapitel 2
    W ie so viele folgenschwere Dinge fing alles mit einer Party an.
    Mit zwei Partys. Beide Kinder von Elizabeth Bergamot sollten auf Partys gehen. Jake, der Ältere – das braune Haar auf einmal beinahe schulterlang, die Augen eine Mischung aus Grau, Grün und Blau –, zog an dem Abend natürlich allein los. Seine Party fand in der Bronx statt, in Riverdale, irgendwo in der Nähe seiner Schule. Vergangenen Freitag war er fünfzehneinhalb geworden. Eigentlich lächerlich, dass die Bergamots diesen zusehends bedeutungsloseren Meilenstein – seinen Halbgeburtstag – immer noch feierten, mit einem halben Kuchen und einem halben Geschenk. Richard, Liz’ Ehemann, hatte vor zehn Jahren mit der ganzen Geschichte angefangen und sie beide überrascht, als er damals mit einem halben Kartenspiel nach Hause gekommen war. Die restlichen sechsundzwanzig Spielkarten tauchten dann wundersamerweise über Nacht unter dem Kopfkissen des Jungen auf.
    »Am Cinco de Mayo wird er fünfeinhalb«, hatte Richard zur Erklärung gesagt. »Gibt’s denn einen besseren Grund zum Feiern?«
    Weil die Geste so anrührend war, so zärtlich und väterlich, und weil Richard in Kalifornien mit diesem Brauch großgeworden war, hatte Liz ihm in Bezug auf die Bedeutsamkeit solcher Dinge, mexikanischer Dinge, vertraut. Außerdem war es ja irgendwie auch lustig – eine nette Familientradition! Auch wenn sie so etwas von ihrer eigenen Familie nicht kannte, hatte sie sich immer danach gesehnt: nach Verwandten als Ruhepol, einem Zuhause als Zufluchtsort, als Rückzugsmöglichkeit von dem gefährlichen, zerstörerischen Rest der Welt.
    Letzten Freitag, dem diesjährigen Cinco de Mayo, hatte Jake zu seinen morgendlichen Frühstücksflocken einen Autoschlüssel bekommen. Der wahre Schlüssel zum Königreich würde ihm dann, zusammen mit dem Geld für die Fahrschule, an seinem eigentlichen Geburtstag im November ausgehändigt werden.
    Für die abendliche Party war Jake also auf diverse öffentliche Verkehrsmittel angewiesen – Bus, U-Bahn, Bus, U-Bahn, U-Bahn, Taxi –, obwohl immer noch die Möglichkeit bestand, dass eine andere aufopfernde Mutter ihn nach Hause fahren würde. Liz selbst war anderweitig beschäftigt. Er musste sich also etwas einfallen lassen.
    Während Liz ihn so über sein Frühstück gebeugt dasitzen sah (zwei Schalen zuckrig-bunte Lucky Charms, ein Joghurt und ein Erdnussbutter-Sandwich), kam es ihr vor, als wäre er allein in dieser einen Woche wieder ein paar Zentimeter gewachsen. Sein Rücken war so lang, dass es schien, als wären unverhofft noch drei weitere Wirbel hinzugekommen. In letzter Zeit hatte Liz oft den Eindruck, sie könnte Jake regelrecht zusehen beim Wachsen, wie bei einer Kletterpflanze. So wie früher als Kleinkind, als Richard, immer noch der von scheuer Ehrfurcht ergriffene junge Vater, ihn schlafend fotografiert hatte, um das Phänomen dokumentarisch festzuhalten, als wäre Jake ein Yeti oder ein UFO.
    Bei ihrem anderen Kind – Coco, ihrem Nesthäkchen – war elterliche Begleitung zu einer Zwergen-Soirée gefragt: ein sechster Geburtstag im – man höre und staune! – Plaza Hotel. Eine Übernachtungsparty! Letztes Jahr, als Richard sein Einstellungsgespräch für die Stelle an der Uni gehabt hatte, war sie mit ihm dort auf einen Drink im Oak Room gewesen. Davor hatte Liz das Plaza in ihrem ganzen Leben immer nur dann betreten, wenn sie in Midtown unterwegs war und eine öffentliche Toilette suchte. Als Cocos Kammerzofe wollte sie den Luxus, der sie erwartete, deshalb hemmungslos genießen. Coco wiederholte die Vorschulklasse, was eine Vorbedingung für die Aufnahme an der Wildwood-Grundschule gewesen war. Eine Privatschule. Eine Wohnung in Manhattan. Das Plaza Hotel. Aufgewachsen in der Bronx, in einer Sozialwohnung in Co-op City, konnte Liz ihr neues Leben manchmal gar nicht recht fassen.
    In Ithaca, wo sie die letzten zehn Jahre glückselig gelebt hatten – Richard und sein kometenhafter Aufstieg an der Cornell University, Liz mit ihren gelegentlichen Lehraufträgen an der kunstgeschichtlichen Fakultät, dazu der betörend schön gelegene Campus und die locker-lässige Atmosphäre in der Uni-Community –, in diesem früheren Leben hatte der kleine Wildfang Coco immer im Mittelpunkt gestanden. Hier in New York galt sie als ungezogenes Gör, war aber gleichzeitig immens beliebt. In den vergangenen neun Monaten war sie öfters und zu schickeren Partys eingeladen gewesen als Liz in ihrem ganzen Leben
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