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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
Autoren: Helen Schulman
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(Bootsfahrten auf dem Hudson, Filmvorführungen im Soho House, Süßigkeiten ohne Ende in Dylan’s Candy Bar).
    Coco war eine von drei chinesischen Adoptivtöchtern in ihrer Klasse – von denen eine andere ebenfalls Coco hieß. Ihre Coco hieß nun also Coco B., so wie Liz während ihrer gesamten Schulzeit Elizabeth C. (geborene Cohen) geheißen hatte. Der Grund, die Kleine »Coco« zu nennen, war eigentlich der gewesen, dass sie diese Sache mit dem Anfangsbuchstaben vermeiden wollten, und nun war das »B.« doch da, wie eine Warze auf der Nasenspitze. Der arme Jake war schon so lange und so oft Jake B. genannt worden, erst in Ithaca und jetzt in New York, dass einige Kids in der Wildwood-Oberschule sich inzwischen angewöhnt hatten, ihn Jacoby zu nennen – wie diese Anwälte, die den Krankenwagen hinterherjagen und, wie Liz erstaunt feststellte, immer noch ihre Anzeigen in der New Yorker U-Bahn hatten: »Vom Lastwagen angefahren worden? Rufen Sie Jacoby & Meyers an.« (Und wenn man sich bloß fühlte , als wäre man von einem Laster angefahren worden?, überlegte Liz. Was ist, wenn man sich tagaus, tagein bloß so fühlte , als wäre man von einem Laster angefahren worden? Könnte man Jacoby & Meyers dann auch anrufen?)
    Der große, dünne Jake war jetzt schlaksig und hatte auf einmal Schultern. Männerschultern. Seit wann hatte er solche Schultern?, fragte sich Liz, als er sich in der engen, schmalen Küche an ihr vorbeischlängelte, um sein Frühstücksschälchen ins Spülbecken zu stellen, und sie sich gerade ihre zweite Tasse Kaffee einschenkte. Als er sich erneut an ihr vorbeischob, widerstand Liz dem Drang, diese Schultern zu berühren. Stattdessen warf sie, während er sich seinen Rucksack schnappte, »Bis dann, Leute« rief und den langen, schmalen Flur entlanglief, im Geiste einen Dollar in das »Seelenklempner«-Kässchen, jenen imaginären Fond für die Psychotherapie, die Jake aufgrund ihrer überbordenden Verzärtelung einmal brauchen würde.
    »Bis dann, mein Schatz! Einen wunderschönen Tag für dich«, rief Liz ihm hinterher.
    »Zeig’s ihnen, Junge«, kam es von Richard aus dem anderen Zimmer. Vielleicht war es ironisch gemeint, so genau wusste man das bei ihm manchmal nicht.
    Jake hatte es eilig – er wollte sich an der U-Bahn-Station 96th Street mit seinen Freunden treffen –, offenbar blieb da keine Zeit, ihr einen Abschiedskuss zu geben. Sein Schulweg war nicht weit, was sich nach ihrem Umzug im Sommer aber wieder ändern würde. Momentan zog Jake im Pulk mit ein paar anderen Mitschülern von der Upper West Side zur üppig begrünten Wildwood-Oberschule in Riverdale, und Liz war dankbar, dass er so schnell Anschluss gefunden hatte. »Ich zieh mit den Jungs los, Mom«, sagte er, nicht direkt genervt, sondern um sie zu beruhigen, sooft Liz ihre fast lächerliche Besorgnis äußerte. Und wenn du ausgeraubt wirst? Und wenn es wieder einen Terrorangriff gibt?
    In Ithaca, wo er mit seiner Familie den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, war Jake von der vierten Klasse an allein mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, von der Schule zurück nach Hause und bis zu den Ithaca Falls. Wie weiland Nabokov stieg er in einen der Uni-Busse, wenn er sich auf den Hügel wagte, um Richard auf dem Campus zum Mittagessen zu treffen. Dann stellte er seinen kleinen silbernen Drahtesel auf den Ständer an der vorderen Stoßstange des Busses neben die großen Fahrräder der Studenten und der eher urigen, knackig-sportlichen Professoren (die »von der Zapfsäule unabhängig waren«). In Ithaca war Jake oft allein zum Schwimmtraining an den kühlen, blauen See gefahren, wenn Liz ihn nicht chauffieren konnte, und keiner, weder Richard noch Jake noch Liz, hatte sich deswegen je groß Gedanken gemacht.
    Letzten Freitag war Jake fünfzehneinhalb geworden, also fast sechzehn. Während die Tür hinter ihm zuknallte, traf sie diese Erkenntnis wie aus heiterem Himmel.
    »Richard.« Noch in Schlafanzughose und dem alten T-Shirt mit der Aufschrift KISS, das sie gern zum Schlafen trug, trat Liz auf den Flur. »Glaubst du, mein Gefühl gegenüber Jakey als Teenager ist so ähnlich wie das, was man hat, wenn man aus der Narkose aufwacht und feststellt, dass einem ein Organhändler eine Niere gestohlen hat?«
    »Genau das dachte ich auch gerade«, sagte Richard. Er stand im Wohnzimmer am Esstisch, den er auch als Schreibtisch benutzte, ordnete Papierstapel und sah in Anbetracht der frühen Morgenstunde unheimlich gut aus, fand
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