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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl
Autoren: Daniela Larcher
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so groß und deutlich zu erkennen, dass er sich fragte, warum er sie bisher noch nicht bemerkt hatte. Auf Josef Anders’ kalter Stirn prangte ein X gefolgt von zwei senkrechten Strichen. XII , das römische Zeichen für die Zahl Zwölf. Morell war klar, dass das sehr wahrscheinlich etwas zu bedeuten hatte. Er war aber zu müde und kaputt, um sich jetzt Gedanken darüber zu machen. Er deckte den Toten zu und verließ die Leichenhalle.
    Draußen warteten Bender und Agnes Schubert auf ihn. Die Schubert hatte er völlig vergessen.
    »Kann ich nach Hause gehen, Herr Kommissar, oder brauchen Sie noch etwas von mir?«, fragte sie. In der Zwischenzeit hatte sie sich das Gesicht gewaschen und die Haare zu einem Knoten zusammengebunden.
    »Hat Inspektor Bender Ihre Aussage aufgenommen?«, wollte Morell wissen.
    »Ich habe Ihrem Assistenten alles erzählt, was ich weiß, aber das ist leider nicht viel. Ich war heute Morgen früher hier als sonst. Ich wollte die Heizung in der Sakristei aufdrehen und nachsehen, ob das Wasser im Weihwasserbecken wieder eingefroren war. Und dann sah ich ...«, sie stockte, »... es«, vervollständigte sie ihren Satz, »und bin sofort zu Ihnen gerannt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    »Schon gut«, versuchte Morell sie zu beruhigen. »Das haben Sie genau richtig gemacht. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie jetzt nach Hause.« Natürlich wollte sie.
    Morell trug seinem Assistenten auf, im Revier auf ihn zu warten, und ging mit Frau Schubert in Richtung Auto.
    »Chef!«, rief Bender hinter ihnen her. »Sie müssen noch die Angehörigen benachrichtigen.«
    »Ich weiß«, sagte Morell. »Ich weiß.«
     
    Als Morell kurz nach neunzehn Uhr völlig fertig nach Hause kam, war es schon finster. Er machte kein Licht an, sondern ging im Dunkeln ins Wohnzimmer und ließ sich dort auf die Couch fallen. Sein Körper sank schwer in die weichen Kissen. Er schloss die Augen, atmete tief durch und schüttelte den Kopf. »Was für eine verdammte Scheiße!« Zuvor hatte er sich aus der Küche eine Flasche Schnaps geholt. Er war zwar kein großer Trinker, aber hie und da, zu einem besonderen Anlass, genehmigte er sich einen kleinen Schluck. Und die Geschehnisse heute waren definitiv ein besonderer Anlass – wenn auch nicht im positiven Sinne. Morell schenkte sich ein. Er roch an der klaren Flüssigkeit und inhalierte den Duft von reifen Birnen. Dann führte er das Glas zum Mund und nahm einen großen Schluck. Der Schnaps brannte kurz in seinem Hals, dann breitete sich eine wohltuende Wärme in Morells Körper aus. Er lehnte sich zurück und schloss erneut die Augen.
    Fred, der getigerte Kater, setzte sich auf den Schoß seines Besitzers. Morell zuckte kurz zusammen. »Ich werde dich auf Diät setzen müssen, Fred. Du wirst bald zu schwer, um auf meinem Schoß zu liegen.« Fred tat so, als hätte er das nicht verstanden, und begann zu schnurren. Ein angenehmes Vibrieren setzte ein. Morell legte seine Beine auf den niedrigen Couchtisch vor ihm und begann das voluminöse Tier zu streicheln. Er versenkte seine Finger tief in dem dichten, weichen Fell des Katers und versuchte die schrecklichen Bilder des heutigen Tages zu verdrängen.
    Weitaus weniger schlimme Fälle als dieser hier waren der Grund gewesen, warum er sich nach Landau hatte versetzen lassen. Er dachte an die misshandelten Kinder und vergewaltigten Frauen, mit denen er zu tun gehabt hatte, dachte an das alte Ehepaar, das
wegen 200  Euro und ein paar silbernen Löffeln in seiner eigenen Wohnung überfallen und halb totgeschlagen worden war. Und dann dachte er an die Todesfälle, die er bearbeitet hatte. Eifersucht, Habgier, Lust, Rache, Rassismus, Hass. Das alles waren die Gründe, warum Menschen ihre Eltern, Kinder, Ehepartner, Geschwister oder Freunde verloren. Und das waren auch die Gründe, wegen denen Morell seiner Karriere den Rücken gekehrt hatte und wieder in seinen Heimatort gezogen war. Er wollte keine Blutlachen, Wunden und verrenkten Glieder mehr sehen, wollte keine Berichte über Schmerzen, Verletzungen und Tathergänge schreiben und keine Todesnachrichten mehr überbringen. Aber genau das alles hatte er heute tun müssen.
    Morell überlegte, was noch alles auf ihn zukommen würde. Die grausigen Details des Obduktionsberichts, die vielen Befragungen, all die Protokolle, die er würde schreiben müssen. Und dann natürlich die vielen Verleumdungen, das Misstrauen und die Gerüchte, die im Ort ihre Runde machen würden.
    Er dachte daran,
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