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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl
Autoren: Daniela Larcher
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mussten den Leichnam vom Gerüst herunterholen. An und für sich wäre es zwar besser gewesen, mit diesem Schritt auf die Gerichtsmedizinerin zu warten, aber Morell wusste nicht, wie lange es dauern
würde, bis sie ankäme beziehungsweise ob sie überhaupt kommen würde. Was er aber mit Sicherheit wusste, war, dass bald die ersten Schaulustigen ihre Nasen durch die schmiedeeisernen Stäbe des Gittertors stecken würden, und er wollte auf gar keinen Fall noch mehr Aufsehen erregen. Es reichte, dass Agnes Schubert, der personifizierte Dorfklatsch, den Toten gefunden hatte. Außerdem fühlte er sich Josef Anders und seiner Familie gegenüber verpflichtet. Niemand aus Landau sollte den Toten in dieser würdelos exponierten Haltung zu Gesicht bekommen.
    Er und Bender würden den Körper ins Leichenhaus bringen, das sich auf dem Friedhofsgelände befand. In dem kleinen Gebäude wurden normalerweise Verstorbene am Tag vor der Beerdigung aufgebahrt. Dort sollte der Leichnam von Josef Anders so lange bleiben, bis er abgeholt und in die Gerichtsmedizin gebracht werden würde. Bender hatte noch Frau Schuberts Schlüsselbund und ging los, um eine Rollbahre aus der Leichenhalle zu holen. Morell zog sich währenddessen einen Mundschutz und einen Umhang aus Plastik über. Diese Utensilien hatten jahrelang im Schrank seines Büros gelegen. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, dass er sie irgendwann einmal brauchen würde.
    Vorsichtig löste er die Fesseln an den Handgelenken des Leichnams und versuchte dem Toten dabei nicht in die aufgerissenen Augen zu sehen. »Was hast du denn nur angestellt, dass dir jemand so etwas antut?«, fragte Morell das Opfer leise, während er die Plastikfesseln in eine kleine Tüte steckte, diese vorsichtig verschloss und mit einer Nummer versah.
    Bender war mittlerweile wieder zurückgekommen und zog sich ebenfalls Mundschutz und Umhang über. Anschließend trippelte er nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hatte immer von einem großen Fall geträumt. Hatte sich wilde Verfolgungsjagden und spektakuläre Festnahmen gewünscht, um bei den Mädchen ein wenig angeben zu können. Er konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er sich über seinen lethargischen Vorgesetzten und den
langweiligen Arbeitsalltag geärgert hatte. Heute sehnte er sich danach zurück. Er würde an seine Grenzen gehen müssen, um dieses Ding, das bis vor Kurzem noch ein Mensch gewesen war, anzufassen.
    »Du musst jetzt sein Bein festhalten«, riss ihn Morell aus seinen Gedanken. »Ich werde versuchen, die Fessel vorsichtig von seinem Knöchel zu lösen.«
    Bender schluckte, holte tief Luft und tat dann, was sein Chef ihm aufgetragen hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass die Leiche hartgefroren war. Kalt und steif, wie eine Eisskulptur. Sie musste schon einige Zeit hier hängen – andererseits dauerte es bei den momentanen Temperaturen sicher nicht lange, bis ein Körper einfror.
    Während Bender noch seinen Gedanken nachhing, hatte Morell begonnen, den letzten Knoten zu lösen. »Jetzt!«, rief er.
    Bender und Morell hievten den Körper mit vereinten Kräften auf die Bahre. Steifgefroren wie er war, blieb der Leichnam in seiner grotesken Pose. Immer noch spreizte er seine Arme und Beine weit auseinander. Bender musste unvermittelt an einen Handballtorwart denken, der versuchte, keinen Treffer zu kassieren.
    »Wir haben Glück«, stellte Morell fest. »Wäre die Leiche nicht gefroren, dann würde es hier jetzt ganz übel riechen.«
    »Sie meinen, die Leiche wäre dann so richtig faulig und weich?«, fragte Bender und versuchte die Bilder zu verdrängen, die sich schlagartig vor seinem inneren Auge bildeten.
    »Ganz genau. Wir können wirklich froh über diese Eiseskälte sein.«
    Sie schafften die sterblichen Überreste von Josef Anders in die Leichenhalle. Morell sah sich in dem kalten, weiß gefliesten Raum um, dessen einziger Wandschmuck ein schlichtes Holzkreuz war, und fand schließlich in einer kleinen Holzkommode neben der Tür ein großes Tuch. Er nahm es und ging damit zur Bahre, um den Leichnam zuzudecken. »Ich werde mein Bestes tun, um herauszufinden, wer dir das angetan hat!«, sagte er zu dem Toten. Er
hob seinen Blick und traute sich das erste Mal, genauer in Josef Anders’ geschundenes Gesicht zu schauen. Und da fiel ihm etwas auf.
    Irgendjemand, Morell nahm an, dass es der Mörder war, hatte etwas in Josefs Stirn geritzt. Morell trat näher an die Bahre heran und beugte sich ein wenig nach vorn. Die Schnitte waren
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