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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl
Autoren: Daniela Larcher
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Schwingungen versetzt, was erhebliche Risse im Mauerwerk verursacht hatte. Das war der Grund, weshalb der Kirchturm gerade saniert wurde.
    Und da war es!
    Morell konnte nicht fassen, was er vor sich sah. Er glaubte erst, dass seine Augen ihm einen Streich spielten. Agnes Schubert hatte bei weitem nicht übertrieben. Das, was da vor ihm hing, als »das Grauen« zu bezeichnen, war eine totale Untertreibung. »Oh Gott!«, war alles, was Morell herausbrachte.
    Der Leichnam von Josef Anders hing kopfüber an dem Baugerüst.
    Irgendjemand hatte den nackten, entstellten Körper mit gespreizten
Armen und Beinen an die Stahlrohre gebunden, sodass er einem überdimensionalen X glich. Der Leib des Toten war grünlich verfärbt und aufgequollen. Durch den Fäulnisprozess hatten sich Teile der Haut abgelöst und hingen jetzt in Fetzen herab. Darunter kam fauliges Muskelgewebe zum Vorschein.
    Sosehr Morell es auch versuchte, er konnte nicht wegsehen. Seine Augen starrten wie gebannt auf die schrecklich zugerichtete Leiche. Noch nie in seinem ganzen Leben, auch nicht in den Lehrbüchern der Polizeiakademie oder seiner kurzen Karriere bei der Kriminalpolizei, hatte er so etwas Entsetzliches und Albtraumhaftes gesehen. Das, was früher einmal Josef Anders gewesen war, hatte nichts Menschliches mehr an sich.
    Die Zunge des Toten hing aus dem offenen Mund heraus, sodass sein Gesicht zu einer grausigen Fratze entstellt wurde. Überall konnte Morell Einstiche an dem geschundenen Körper sehen.
    Als Morells Blick auf die weit aufgerissenen Augen des Toten fiel, war es aus mit seiner Beherrschung. Sein Herz hämmerte, er sank auf die Knie, ihm war übel und schwindelig und er befürchtete, dass er das Bewusstsein verlieren würde.
    Morell übergab sich nur wenige Zentimeter von der Stelle entfernt, an der auch Agnes Schubert sich vor ungefähr einer halben Stunde übergeben hatte.
    »Chef?«, es war Benders Stimme. »Alles in Ordnung?« Im selben Moment, als er die Frage stellte, sah er die entstellte Leiche, und die Antwort erübrigte sich. Inspektor Robert Bender war der Dritte, der an diesem Sonntagmorgen auf dem kleinen Friedhof von Landau seinen Mageninhalt wieder von sich gab.
    Morell wusste, dass er irgendetwas unternehmen musste. Aber was? Dass der völlig bestürzte Bender, der sich verzweifelt an einem großen Marmorgrabstein festhielt, nun auch noch in Tränen ausbrach, machte die Situation nur noch schlimmer. »Das ist doch nicht wahr! Das kann nicht sein! Nicht bei uns! Nicht in
Landau!«, stammelte Bender und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über den Mund.
    »Anscheinend schon«, entgegnete Morell, der sich wieder etwas gefasst hatte. »Hol Frau Schubert aus dem Auto, und bring sie in die Sakristei. Sie soll dort warten. Lass dir anschließend die Schlüssel für die beiden Friedhofstore geben und sperr sie ab. Ich werde in der Zwischenzeit entscheiden, was zu tun ist.«
    Bender schwankte in Richtung Parkplatz, dankbar, dass er dem grotesk zur Schau gestellten Leichnam endlich den Rücken zukehren konnte.
    Morell dachte nach, versuchte sich das Lehrbuch aus seiner Ausbildung zum Polizisten vor Augen zu führen. Es war so verdammt lange her. Ein anderes Leben. Der harte, oft grausame Polizeialltag, dem er entkommen wollte, hatte ihn wieder eingeholt. Die Zeiten, in denen er sich um gestohlene Gartenzwerge kümmern konnte und heulende Hausfrauen tröstete, weil ihre Katze verschwunden war, gehörten nun wohl endgültig der Vergangenheit an.
    »Als Erstes gilt es, Verletzte zu versorgen, Gefahrenquellen auszuschalten und sonstige Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren«, zitierte Morell leise. Das alles war hier wohl nicht nötig. Als Nächstes galt es, Spuren und Informationen zu sichern.
    Als Bender zurückkam, schien es so, als hätte er sich wieder ein wenig gefangen. Trotzdem vermied er es tunlichst, den Leichnam anzusehen.
    »Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte er.
    »Ich werde damit beginnen, hier draußen die Spuren zu sichern«, antwortete Morell. »Wie geht es Frau Schubert? Ist sie vernehmungsfähig?«
    »Ich denke schon«, meinte Bender. »Ich glaube, sie hat sich ein wenig beruhigt.«
    »Gut. Lass dir von ihr genau erzählen, was sie gesehen hat, und
bring ihre Aussage zu Protokoll. Veranlasse, dass die Acht-Uhr-Messe abgesagt wird. Sobald das erledigt ist, meldest du dich wieder bei mir!«
    Bender nickte. »Chef?«, flüsterte er und schaute auf den Boden. »Das da ist Joe
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