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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl
Autoren: Daniela Larcher
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Bewusstsein rief, dass Agnes Schubert schon immer einen Hang zur Dramatik hatte und gerne übertrieb. Letztes Jahr im Sommer hatte ein armer, alter Landstreicher in ihrem Geräteschuppen Schutz vor einem Gewitter gesucht. Agnes Schubert hatte im Polizeirevier angerufen und
sich aufgeführt, als würde ein psychopathischer Serienvergewaltiger mit gezücktem Messer in ihrem Garten lauern und nur darauf warten, sie in die Finger zu bekommen.
    »Können wir jetzt bitte gehen?«, flüsterte sie noch einmal. Agnes Schubert wollte freiwillig den Bau ihrer Beute verlassen – das konnte nichts Gutes bedeuten.
    Chefinspektor Morell nickte. »Geben Sie mir eine Minute. Ich ziehe mir nur was Warmes an.« Er verließ die Küche und ging in den Flur. Dort blieb er stehen, überlegte kurz, griff dann zum Telefon und wählte die Nummer seines Stellvertreters, Inspektor Robert Bender. Er ließ es klingeln. Wieder und wieder.
    »Bender«, meldete sich endlich eine Stimme, die nicht sehr erfreut über den frühen Anruf zu sein schien.
    »Robert, hier Morell. Kann sein, dass ich dich brauche.«
    »Okay«, Bender überlegte, ob sein Vorgesetzter ihn bisher jemals gebraucht hatte.
    »Irgendetwas ist hinter der Kirche passiert. Die Schubert hat mich grad völlig hysterisch aus dem Bett geklingelt. Keine Ahnung, was los ist. Aber was auch immer es ist, es hat sie ziemlich aus der Bahn geworfen.«
    »Okay.« Bender war alles andere als wach.
    »Ich werde jetzt da hinfahren«, sagte Morell. »Wir treffen uns in zehn Minuten bei der Kirche.«
    »Okay.«
    »Bis gleich«, verabschiedete sich Morell.
    »Okay«, sagte Bender, aber das konnte sein Chef nicht mehr hören, da er schon aufgelegt hatte.
    Morell überlegte kurz, ob er sich in seine Uniform quetschen sollte. Die dunkelblaue Mehrzweckhose und das hellblaue Uniformhemd, die bei der österreichischen Polizei zur Standardausrüstung gehörten, zwickten ihn schon lange an allen möglichen Stellen. Es war ihm aber viel zu peinlich, eine neue Uniform zu ordern. Er konnte sich nur zu gut an den Absatz aus dem Anforderungsprofil
für Polizeibeamte erinnern, in dem es hieß »... von einem Polizeibeamten wird außerdem erwartet, dass er sportlich trainiert und ausdauernd ist ...«. Morell befürchtete, dass es daher sehr wahrscheinlich gar keine Uniformen in seiner Größe gab, und sein Stolz verbot es ihm nachzufragen.
    Zivilkleidung war das Einzige, was er aus seiner Zeit im Kriminaldienst wirklich vermisste.
    Er beschloss, dass die besonderen Umstände es erforderten, sofort das Haus zu verlassen und daher keine Zeit mehr blieb, sich extra seine Uniform anzuziehen. Er ließ den grünen Rollkragenpulli und die graue Flanellhose an, die er sich im Halbschlaf angezogen hatte, und griff nach seiner Winterjacke und einer dicken, gestrickten Wollmütze.
     
    Agnes Schubert hielt sich an Morells Arm fest, als sie gemeinsam auf den Vorplatz seines Hauses traten. Der Morgen dieses 12 .Dezembers war klirrend kalt. Der kleine Ort Landau lag weiß und verschlafen unter einer Decke frischgefallenen Schnees. Morell schob seine Mütze tiefer ins Gesicht und zog die Schultern hoch. Er mochte die Stimmung, die an Wintertagen kurz vor Sonnenaufgang herrschte: Die kalte, klare Luft, in der man seinen eigenen Atem sehen konnte. Das Knirschen unter den festen Winterschuhen. Die Eisblumen an den Fensterscheiben und die Eiszapfen an der Dachrinne.
    Er blickte nach oben. Es hatte offenbar die ganze Nacht über geschneit, aber jetzt war der Himmel sternenklar. Bald würde die Sonne aufgehen. Er lenkte seinen Blick wieder zu Agnes Schubert, die leise wimmernd neben ihm stand. Entweder war sie völlig durchgeknallt oder er würde gleich etwas wirklich Erschütterndes zu Gesicht bekommen. Er atmete ein und sog die eisige Luft so tief in seine Lungen, dass es wehtat.
     
    Einige Momente später saß Morell, das kleine Häuflein Elend neben sich auf dem Beifahrersitz, in seinem Golf-Streifenwagen und fuhr zur Kirche. Eigentlich wäre es von seinem Haus bis dahin nur ein kurzer Fußmarsch von ungefähr fünf Minuten gewesen. Morell hatte aber die schlechte Angewohnheit, auch kürzeste Strecken mit dem Auto zu fahren. Er hatte sich fest vorgenommen, den Wagen im Frühling gegen ein Fahrrad zu tauschen, um ein wenig abzunehmen. Bis dahin würde es aber noch einige Zeit dauern. Im Moment war es einfach zu kalt für Freiluftsport.
    Die ganze Fahrt über sagte Agnes Schubert kein Wort. Morell, der von Haus aus kein großer
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