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Die Wanderbibel

Titel: Die Wanderbibel
Autoren: Matthias Kehle , Mario Ludwig
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begehrte Firnlinie des Biancogrates, ein eleganter Grat, den sich ein hochbegabter Landschaftsarchitekt ausgedacht haben musste. Anja memorierte die Gipfel, während sie unseren Proviant auspackte und nebenbei klammheimlich meine Digitalkamera nahm, um endlich auch einmal ein Gipfelfoto mit Gatten zu bekommen. Ich habe leider ein mäßiges Berggedächtnis, während Anja nur einmal einen Berg zu sehen braucht, um ihn von jeder Seite und jeder Entfernung wiederzuerkennen. Kein Wunder, hat sie doch schon als Zehnjährige über Karten und Panoramen gebrütet und sämtliche Viertausender der Alpen auswendig gelernt. Inklusive Nebengipfel versteht sich. Zum Piz Bernina (4049 Meter) gehört nämlich auch noch der Vorgipfel Piz Spalla (4020 Meter) und der Endpunkt des Biancogrates, Pizzo Bianco, mit 3995 Meter leider kein Viertausender.
    Kaum hatten wir zu kauen begonnen, fing eine ältere Dame vor uns an zu rauchen. »Stinkt!«, riefen wir halblaut und hüstelten. Mit um die siebzig rauchen und noch 300 Höhenmeter schaffen, das ist beachtlich. Zweimal mussten wir die Kritik wiederholen, bis die Dame ein Einsehen hatte und sich vom Acker machte, um zehn Meter weiter die Bergluft zu verpesten. Auch das noch eine Zumutung für tabakabstinente Bergkameraden.
    Überhaupt Sauerei in den Bergen: Es ist verblüffend, an welchen Stellen man Zigarettenkippen findet. Wären wir richtige, echte Bergsteiger, so könnten wir wahrschein lich von überhängenden Felsformationen erzählen, an deren gefährlichster Stelle eine Kippe in einem Spalt steckte, den ein Nikotinsüchtling gleich neben einem Bohrhaken installiert hat. Von den weißen Tempotaschen tücherflecken ganz zu schweigen, die als Wegmarkierung immer und überall hinterlassen worden sind. Das übrigens muss nicht sein: Vor unseren Wanderungen »zieht« Anja im Tal Hundekot-Sammeltüten aus jenen grünen Kästen, die in der Schweiz die Aufschrift »Robidog« tragen, um am Berg keine weißen Markierungen hinterlassen zu müssen.
    Noch wähnte sich Anja glücklich und in Sicherheit, jetzt studierte sie den Biancograt. Einen halben Landjäger und eine Ecke Brot hatte ich verspeist, als ich sie kom men sah: die Italiener. Schätzungsweise einhundert Schü ler in weißen und in roten Turnschuhen, in Halbschuhen, in Wanderschuhen, in Hotpants, Trainingshosen, Muscleshirts, Salewa-Klamotten, H & M-Outfit, mit Goldkettchen und ohne, mit Tattoo am Bein, Arm, Nacken oder mit Arschgeweih, mit Piercing im Nasenflügel, in der Ohrmuschel oder anderswo, einhundert normale Jungs und Mädels, Punks, Grufties, Freaks, Bunnies, Emos und so weiter. Sie verteilten sich großzügig, schnell und großräumig, aber vor allem um uns herum, möglichst nahe am höchsten Punkt ihres womöglich ersten, einzigen und letzten Dreitausenders.
    Die meisten, vor allem die Mädchen, machten einen gelangweilten bis erschöpften Eindruck, quasselten aber ununterbrochen. Die Rucksäcke, die Rucksäckchen, die Umhängetaschen, die Umhängetäschchen folgten der Schwerkraft und rutschten unmotiviert von den Schultern auf die Felsen. Ihre Besitzer waren zu erledigt, um noch richtig aufzupassen. Weshalb ausgerechnet muss dieser schweißtreibende Ausflug sein, stand auf allen Gesichtern zu lesen, weshalb mussten wir mitten in der Nacht aufstehen, uns stundenlang im Bus durchschüt teln lassen und dann auch noch Bergsteigen! Um Himmels willen, Bergsteigen wie dieses Zotteltier aus Südtirol!
    Was nun folgte war eine kollektive italienische Kinderkomödie, anscheinend penibel einstudiert. Der erste von fünf Akten: Gut achtzig Prozent der Kids rauchte erst mal eine Zigarette. Im Blick hatte ich nun nicht mehr den Biancograt, sondern einen ausgesprochen hübschen Teenager links vor mir. Nachdem die Zigarettenkippen zwischen den Steinen verschwunden waren, holten »le ragazze« – zweiter Akt – aus ihrem Rucksack Deospray, versicherten sich mit einem schnellen Blick des Umstands, im Prinzip unbeobachtet zu sein, machten sich unter ihren Pullis oder T-Shirts zu schaffen, um den Achselschweißgeruch zu bekämpfen – nur Tiere bewegen sich mehr, als sie unbedingt müssen, und Tiere stinken! Direkt hinter mir postierte sich eine männliche Aufsichtskraft Anfang dreißig mit Hakennase, Marke Julius Cäsar bei Asterix. Er wurde von einem seiner Schutzbefohlenen samt Gipfelkreuz fotografiert und palaverte nasal und lautstark in sein Mikro, worauf plötzlich Friedhofsstille herrschte, nein: Der Bergfriede zog auf dem
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