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Die Wanderbibel

Titel: Die Wanderbibel
Autoren: Matthias Kehle , Mario Ludwig
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im Laufe des Tages mit allem zu rechnen ist, nur nicht mit einem glasklaren Wintertag mit Sicht bis zum Dom zu Mailand. Wir kamen an einem halb zugefrorenen Bergsee vorbei, an dessen Ufer am frühen Morgen schon ein Angler sein Glück versuchte, Anja hielt Ausschau nach dem Himmelsherold, einem unschein baren Pflänzchen, das ich Vergissmeinnicht genannt hätte, das aber angeblich selten ist, sogar im Engadin.
    Idyllisch kann man die Wanderung nicht nennen. Ab acht Uhr surrten immer wieder die Seilbahnen über uns hinweg, wir passierten die Altschneefelder der Skihänge, querten einige Male die plattgewalzten Wege der Pistenbullies, die irgendwo eingemottet auf den nächsten Winter warteten, wir staksten durch den kniehohen Schnee an Skiliften vorbei und ließen den Lärm der Diavolezza erst mal rechts liegen. Dafür waren wir auf dem Sass Queder allein. Auf dem Gipfel hatten eifrige Wanderer einen Steinhaufen als Windschutz zu einem Halbrund für die Brotzeit aufgeschichtet und ein provisorisches Bänkchen in Form eines brüchigen Brettes arrangiert sowie anscheinend Marmelade gekocht. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Anja am Gipfel eine leere Zuckertüte (ein Kilogramm) fand? Der Gipfel oder je nach Standpunkt: das Gipfelchen war die ganze Zeit im Nebel, wir fröstelten ein wenig, die Hosenbeine waren nass. Wenn die Nebelschwaden kurz schwanden, beobachteten wir das fröhliche Treiben der Nationen dieser Welt auf Diavolezza, bevor wir die knapp hundert Höhenmeter hinunterflanierten.
    Komischerweise üben Andenkengeschäfte auf uns eine magische Anziehung aus. Wir marschierten sogleich mit unseren verdreckten Wanderstiefeln in den obligatorischen Kiosk und betrachteten die Souvenirs Made in China. Seltsam übrigens, dass wir immer die einzigen Wanderer zu sein scheinen mit peinlich verschlammten Bergschuhen und Dreckschlieren bis zu den Oberschen keln. Wo waren die anderen wandern, die mit uns auf den Bus warteten oder am Nachmittag erschöpft und mit zerzaustem Haar ins Café kamen? Waren wir mal wieder auf dem einzigen ungepflegten, ungeraden, ungeteerten Wanderweg der Region unterwegs? Waren wir zu blöd zum Wandern und landeten garantiert mit beiden Füßen in jedem Schlammloch? Hatten wir die frisch gemähte Bergwiese, den englischen Rasen im Engadin verpasst, auf dem man porentief rein zum Gipfel spazieren kann?
    Es duftete nach Pommes, Bratwurst, Bier und Kaffee, ein junges Paar ließ sich vor dem Piz Palü knipsen, ein altes Paar rieb sich gegenseitig die Sonnenmilchreste von Ohrläppchen und Nasenspitze.
    »Weg hier!«, sagte Anja, als eine Seilbahn einige Dutzend italienische Jugendliche entließ, studierte aber im Kiosk weiter die Postkarten sowie einen grünen Wanderführer »Ober-Engadin«.
    »Schnell weg hier!«, rief ich, als weitere Seilbahnen erneut dutzende italienischer Schüler entließen. Gefolgt von ihren Lehr- oder Aufsichtskräften, die alsbald nach Kräften in ihr umgehängtes Mikrofon palaverten und die Kids in einem perfekten Kreis um sich scharten, so als hätten sie das vorher wochenlang geübt.
    »Ganz schnell weg hier«, sagte ich noch einmal etwas lauter zu Anja, die nun endlich auch den roten Wander führer wieder zurückstellte. Wir latschten also eine breite Autobahn entlang auf den Munt Pers; der Weg führt in gemütlichen Serpentinen zum Gipfel. Was wir dort später erlebten, war zumindest originell.
    Doch beim Anmarsch bewunderten wir zunächst einmal die drei typischen Nordpfeiler des Piz Palü, wir verfolgten die Aufstiegsspuren der Bergsteigermassen, die sich auf den Palü, auf die Bellavista, den Piz Zupò oder den Piz Bernina drängelten, wahrscheinlich in gleicher Anzahl wie auf unserem harmlosen Touristenberg. Wir bewunderten den immer noch ordentlichen Gletscherbruch des Persgletschers, sonderlich auf den Weg achten muss man nicht, Trittsicherheit ist nur sehr gelegentlich nötig. Wir überholten ältere japanische Damen mit Kopftuch, kiffende Soziologiestudenten in Turnschuhen und einige ganz normale Bergwanderer mit nicht ganz sauberen Bergstiefeln, die wohl wie wir zum ersten Mal im Engadin und somit auch auf dem Munt Pers waren.
    Platz hat es auf dem Munt Pers genügend, so als hätte ihn die Natur für Massenaufläufe geschaffen. Der Gipfel mit seinen zahllosen Steinmännchen war gut besucht, aber nicht überfüllt. Noch nicht. Wir setzten uns am höchsten Punkt hin, ich lehnte mich ans Gipfelkreuz, vor uns in der nahen Ferne die bei Bergsteigern heiß
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