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Die Wanderbibel

Titel: Die Wanderbibel
Autoren: Matthias Kehle , Mario Ludwig
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geschundenen Munt Pers ein. Dritter Akt der italienischen Bergkomödie: Nach fünf Sekunden Ruhe deklamierte die Aufsichtskraft ein dröhnendes Vaterunser, mein Bunny und alle anderen bekreuzigten sich artig und quasselten hernach sogleich weiter. Viertens: Zigarette Nummer zwo. Danach packte jede und jeder (fünfter und für uns letzter Akt) eine weiße Papiertüte aus – das Fresspaket! Darin jeweils eine blaue 0,5-Liter-Plastikflasche mit Wasser, ein weißes Plastikmesser, zwei weiße Brötchen, Salami in Alufolie, ein Plastikdöschen Brotaufstrich und ein Plastikdöschen Nutella. Nach dem Vaterunser – das vergaß ich zu erwähnen – gab’s bei den Jungs ein Schnäps chen, für die Mädels gab es, kurz bevor wir die Flucht ergriffen, ein Schlückchen Rotwein, das die Aufsichtskräfte in Plastikbechern verteilten. Während wir zusammenpackten, rammten die Kids ihr Plastikmesser ins Brötchen, mein Bunny mühte sich redlich, es nicht abzubrechen, und ich hatte für eine Sekunde den Gedanken, dem Mädel mit meinem Prachtexemplar von Victorinox-Messer zu assistieren.
    Irgendetwas, so überlegten wir auf dem Rückweg, während die Luft deutlich besser wurde, bis wir wieder an den kiffenden Soziologiestudenten vorbeikamen, hatte mit den Jugendlichen nicht gestimmt. Als wir bei der Diavolezza-Bergstation vorbeikamen, fiel es uns ein, justament als die Klingel losging, welche der abfahrenden Seilbahn das Signal geben sollte: Die Kinder waren auf Entzug! Kein einziges hatte ein Mobiltelefon benutzt. War dies eine Therapiegruppe gewesen, die das Wandern gegen Handy-Entzugserscheinungen wie Depressionen, Unruhe und Angstzustände einsetzte? Wir würden es nie erfahren.
    Ganz anders geht es übrigens zu, wenn Senioren gruppenweise auf einem Berg einfallen. Eines schönen Tages während einer kleinen Ferienreise gedachten wir, am spä ten Nachmittag noch rasch einen Kaffee auf dem Diedamskopf im Bregenzerwald zu trinken – es herrschte Föhn, der Wintereinbruch stand unmittelbar bevor. Eineinhalb Stunden hatten wir Zeit, dann fuhr definitiv die letzte Seilbahn talwärts. Nur: Wir standen an der Tal station und wollten noch nach oben. Vor uns eine Schlange: Drei Busladungen Senioren aus Rankweil. Direkt vor uns, als Letzte in der Seniorenschlange, warteten drei Rot-Kreuz-Sanitäter mit voller Ausrüstung, sprich drei Notfallkoffern in der Größe von Gleitschirmfliegerrucksäcken mit der Aufschrift »Österreichisches Rotes Kreuz, Abteilung Rankweil«. Selbstverständlich war auch ein Defibrillator dabei. Die Senioren wurden schließlich müh sam in die Seilbahnkabinen gehievt, und in jede der Kabinen reichten Bedienstete der Seilbahngesellschaft zwei, drei Teller mit Käse, Trauben, Tomaten sowie Roggenbrotscheiben. Anja konnte sich die Frage nicht verkneifen, ob sie denn auch für alle Fälle einen Zinksarg dabeihätten. Sie erntete einen Blick, der mich fürchten ließ, dass sie schneller in dem Zinksarg landen würde als einer der Senioren.

3 Horst, Kevin und Anselm-Momo
    Deutschland, deine Wanderer
    Rot kariertes Hemd, abgewetzte Knie bundhosen, Hut mit Gamsbart, politisch eher am rechten Rand angesiedelt und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit »Im Frühtau zu Berge, wir ziehn, fallera« singend – das ist so in etwa das alte Klischee vom bundesdeutschen Wanderer, das auch heute noch in vielen Köpfen herumspukt.
    Ein Vorurteil, das zumindest in den neunziger Jahren keines war, denn folgte man einer 1991 vom Lifestylemagazin »Wiener« in Auftrag gegebenen Blitzumfrage, dann war damals der deutsche Wanderer ein in die Jahre gekommener Spartaner, jeder Dritte einkommensmäßig eher am unteren Ende der Skala angesiedelt, und im Bett herrschte bei immerhin fast jedem Vierten tote Hose. Eine klare Mehrheit der Befragten zeigte eine geradezu beängstigende »Law-and-Order«-Mentalität, war gegen die Homoehe und hielt die Bundesrepublik für zu liberal.
    Vielleicht tröstlich für die so geschmähten Wanderer: Die bundesdeutsche Ausgabe des »Wiener« wurde 1994 eingestellt.
    Fast zwanzig Jahre später, nämlich 2010, wurde das Wanderverhalten der Bundesbürger erneut untersucht. Diesmal vom Deutschen Wanderverband in Kooperation mit der Universität Trier. Danach zählen sich in Deutschland 39,8 Millionen Menschen oder 56 Prozent aller Befragten zu den aktiven Wanderern. Das Durchschnittsalter der Wanderer liegt auch nach dieser Untersuchung mit 47 Jahren deutlich über dem der Durchschnittsbe völkerung.
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