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Die Wanderbibel

Titel: Die Wanderbibel
Autoren: Matthias Kehle , Mario Ludwig
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im Aussterben begriffen, ist der Typ »Horst«: Ältere Rentner, meist Witwer, die dem Klischee vom kleinkarierten, stockkonservativen Kleinbürger perfekt entsprechen. Für den deutlich in der Vergangenheit verhafteten Typ »Horst« ist zum Beispiel die CDU/CSU heute kaum noch wählbar, da zu links orientiert, drakonisch urteilende Schnellgerichte sind die einzige Möglichkeit, der wachsenden Kriminalität Herr zu werden, und überall lauern verkappte Terroristen oder mindestens Schmarotzer. Typ »Horst« ist meist Selbstversorger.
    Auf leicht mit der Seilbahn zu erreichenden und mit Self-Service-Restaurant ausgestatteten Hütten findet man dagegen in jüngerer Zeit vermehrt den Wandertyp »Kevin«: Familien mit schlecht erzogenen, fürchterlich lauten Kindern, die fast ausschließlich auf Namen wie Chantal, Justin, Dennis, Marvin und Jacqueline hören. Der Vater trägt Goldkettchen und raucht Marlboro, die Mutter besticht durch pinkfarbene Leggins und nennt zwei oder mehr Tätowierungen ihr Eigen. Alle Familienmitglieder tragen Sportschuhe von Nike, das neueste Modell versteht sich. Verzehrt werden überwiegend Currywurst mit Pommes oder Pizza. Allerdings fehlt dieses sogenannte abgehängte Prekariat fast vollständig auf Hütten, auf denen man sich sein Mittagessen mittels Überwindung von ein paar Hundert Höhenmetern per pedes erkaufen muss.
    Natürlich ist es durchaus möglich, dass die soeben getätigte Aussage lediglich ein dummes Vorurteil ist. Allerdings ein Vorurteil, mit dem ich mich – wie eine jüngst veröffentlichte Studie der Universität Oldenburg zeigt – in bester Gesellschaft befinde. In der fraglichen Studie wurden 2000 Lehrer online zu ihren Namensvorlieben und den zugehörigen Assoziationen befragt. Dabei galt es, Fragen zu beantworten wie etwa: »Welche Vornamen würden Sie Ihrem Kind auf keinen Fall geben?« oder: »Nennen Sie Namen, die bei Ihnen Assoziationen zu Verhaltensauffälligkeit hervorrufen!«
    Das Ergebnis war eindeutig: Mit den Namen Anna oder Jakob assoziierten die Lehrkräfte ruhige, lernbegierige Mittelschichtskinder.
    Die Mandys, Chantals, Marvins und Jacquelines, also Kinder mit sogenannten Unterschichtnamen, kamen da deutlich schlechter weg. Träger dieser Namen gelten in Pädagogenkreisen als faul und frech. Die Höchststrafe für Kinder lautet nach Ansicht der befragten Lehrkräfte jedoch Kevin. Er führt die Rangliste der unbeliebten Namen an, gilt als besonders verhaltensauffällig und leistungsschwach.
    Eine der befragten Lehrerinnen brachte es auf den Punkt, als sie in Sachen Namensgebung kommentierte: »Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose.«
    In ein ähnliches Horn bläst die Autorin Ulrike Herrmann, die in ihrem bemerkenswerten Buch »Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht« anmerkt: »Nur weil sie täglich Gemüse essen, ihr Kind nicht Kevin nennen und abends im Bett Geschichten vorlesen, glauben viele in der Mittelschicht, sie seien schon Elite.«
    Auf den mit Seilbahn zu erreichenden Hütten ist aber noch ein anderer Wandertypus relativ häufig anzutreffen. Der Typ »Anselm-Momo«. Vertreter dieses Typs essen natürlich keine Pommes. Nein, sie diskutieren mit dem meist völlig konsternierten Hüttenwirt über sein vermeintlich gesundheitsschädliches kulinarisches Angebot. Wenn er schon kein bei Vollmond gebackenes Dinkelbrot zu offerieren hat, dann doch bitteschön wenigstens Kefir (natürlich mit linksdrehender Milchsäure) von im Freiland gehaltenen sardischen Bergziegen. Außerdem wollen die Vertreter dieses Typs ständig in den Hütten »Free Tibet«-Poster aufhängen.
    Beim Wandertypus »Anselm-Momo« handelt es sich – Sie ahnen es wahrscheinlich schon – um den »alternativ- politisch korrekten« Wandertypus: Wanderer, die der Wan derpapst Brämer so hübsch wie folgt beschreibt: »Menschen mit hoher Bildung, vornehmlich aus sozialen und pädagogischen Berufen, politisch und kulturell interessiert, die ihren Focus weniger auf klassische Bildungskarrieren und übertriebenes Konsumniveau richten, sondern dafür eher Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt ihres Daseins rücken.« Sportlichen Ehrgeiz hält der Typ »Anselm-Momo« für schädlich für Leib und Seele.
    Während einer Silvrettatour hatte ich seinerzeit das zweifelhafte Vergnügen, auf der Terrasse der Wiesbadener Hütte den »Original Anselm-Momo« kennenzulernen. Anselm-Momo war etwa zehn Jahre alt und, wie wir später erfuhren, ein
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