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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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winzige Zellklumpen in mir, Schuld wäre, dass Colin sich einer anderen Frau zugewandt hat.
    Und doch, wenn meine eigene Mutter sagt, dass Faith verhindern wird, dass ich so tief in Depressionen verfalle, dass ich aus dem schwarzen Loch nicht mehr herausfinde, hat sie vielleicht gar nicht so Unrecht. Immerhin hat Faith das schon einmal geschafft. Irgendwie verwandelte sich die Schwangerschaft im Laufe der Monate, die ich in Greenhaven verbrachte, von einem Fluch in einen Segen. Menschen, die mir bei meiner Einweisung nicht hatten zuhören wollen, nahmen sich jetzt Zeit für mich und sprachen mich auf meinen anschwellenden Bauch und meine rosigen Wangen an. Colin erfuhr von dem Baby und kehrte zu mir zurück. Ich nannte sie Faith, ein richtiger Goj-Name, wie meine Mutter meinte, weil ich so dringend etwas brauchte, woran ich glauben konnte. (Faith bedeutet im Englischen »Glaube«; Anm. d. Übers.)
     
    Ich sitze da, eine Hand auf dem Telefonhörer. Ich rede mir ein, dass Colin jeden Moment anrufen wird, um mir zu erklären, dass es nur ein Ausrutscher gewesen sei, ein Fall vorübergehender geistiger Umnachtung. Er wird mich anflehen, ihm nicht die Schuld zu geben an diesem Anflug von geistiger Umnachtung. Wenn ich kein Verständnis für so etwas habe, wer dann?
    Aber das Telefon klingelt nicht, und irgendwann nach zwei Uhr morgens höre ich draußen ein Geräusch. Das ist Colin, denke ich. Er ist gekommen.
    Ich laufe ins Bad und versuche, mein Haar zu entwirren, die Arme ganz steif und schmerzend von der tagelangen Untätigkeit. Ich spüle mir mit Mundwasser den Mund aus. Dann laufe ich mit klopfendem Herzen hinaus auf den Flur.
    Es ist dunkel. Unten rührt sich nichts. Ich schleiche die Treppe hinunter und spähe durch die Glasscheibe, die die Haustür rechts und links einrahmt. Ganz vorsichtig öffne ich die Tür - sie knarrt - und trete hinaus auf die Veranda des alten Farmhauses.
    Das Geräusch, das ich gehört habe, rührt von zwei Waschbären her, die in den Mülltonnen nach Essbarem stöbern. »Weg!«, zische ich sie an und fuchtle mit den Händen. Colin hat sie immer in Lebendfallen gefangen. Wenn eins der Tiere gefangen war und in seiner Verzweiflung schrie, stand Colin auf und trug es in den Wald hinter dem Haus. Dann kam er mit dem leeren Käfig zurück, und es war, als wären nie Waschbären da gewesen. »Abrakadabra«, sagte er dann. »Eben waren sie noch da, und schon sind sie weg.«
    Ich kehre zurück ins Haus, aber anstatt wieder nach oben zu gehen, sehe ich den Widerschein des Mondes auf dem polierten Esszimmertisch. In der Mitte des ovalen Tisches steht ein Miniaturmodell des Farmhauses. Ich habe es angefertigt; damit verdiene ich mein Geld. Ich baue Traumhäuser - nicht aus Beton, Rigips und Balken, sondern aus Stäbchen, die nicht dicker sind als Zahnstocher, aus Stücken Satin, die nicht größer sind als meine Handfläche, aus Elmer’s Leim statt Mörtel. Obgleich manche Kunden eine exakte Replik ihres eigenen Hauses in Auftrag geben, fertige ich auch Häuser aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg an, arabische Moscheen und Marmorpaläste.
    Mein erstes Puppenhaus habe ich vor sieben Jahren in Greenhaven gebastelt, aus hölzernen Eisstielen und Pappe, während die anderen Patienten sich mit Origami beschäftigten. Schon in diesem allerersten Modell hatte jedes Möbelstück seinen Platz, gab es ein Zimmer für jede Persönlichkeit. Seitdem habe ich fast fünfzig weitere Miniaturen gebaut. Ich wurde berühmt, nachdem Hillary Rodham Clinton zum sechzehnten Geburtstag ihrer Tochter Chelsea ein Modell des Weißen Hauses in Auftrag gab - komplett mit Oval Room, Porzellan in den Vitrinen und einer handgenähten Nationalflagge der USA im Executive Office. Es haben zwar schon mehrere Kunden danach gefragt, aber Puppen für die Häuser stelle ich nicht her. Ein Klavier, wie winzig es auch sein mag, ist immer noch ein Klavier. Aber eine Puppe mit einem hübschen Gesicht und anmutig geformten Gliedmaßen ist im Herzen immer aus Holz.
    Ich ziehe einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setze mich. Sachte streiche ich mit den Fingern über das abfallende Dach des Miniatur-Farmhauses, über die Stützbalken der Veranda, die winzigen Seidenbegonien in den Terracotta-Töpfen. Drinnen steht ein Tisch wie jener, auf dem das Modell steht. Und auf diesem Miniatur-Kirschbaumtisch steht ein noch viel kleineres Modell des Modells.
    Mit einem Fingerschnippen schließe ich die Haustür des Modells. Ich fahre mit dem Daumen an
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