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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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glatt und stecke lächelnd ihr Haar hinter dem Ohr fest. »Daddy möchte auf Wiedersehen sagen.«
    Sie macht ein ganz trauriges Gesicht. »Für immer?«
    »Nein«, antwortet Colin und kniet sich vor sie. »Du hast doch gehört, was der Richter gesagt hat. Wir sehen uns an jedem zweiten Wochenende.«
    »Also nicht das nächste, sondern übernächstes.«
    Er lehnt die Stirn gegen ihre. »Genau.«
    Das hätte auch ich sein können. Wäre es anders gelaufen, würde jetzt Colin mit Faith nach Hause fahren, und ich würde um eine Minute ihrer Aufmerksamkeit betteln. Dann würde ich vor ihr knien und mit den aufsteigenden Tränen kämpfen.
    Ich habe nie verstanden, woher Kinder besser wissen als man selbst, wie sie einen berühren müssen, wenn man es am dringendsten braucht, oder wie sie es schaffen, einen abzulenken, wenn man gerade an alles denken will, nur nicht an seine Probleme. Faith streichelt ihrem Vater die Wange. »Ich bin trotzdem bei dir«, sagt sie und schiebt eine Hand in die Brusttasche seines Hemdes. »Hier.«
    Dann beugt sie sich vor, schließt die Augen und drückt ihm ein Versprechen in Form eines Kusses auf den Mund.
    Malcolm Metz sitzt in seinem Wagen auf dem Parkplatz seiner Kanzlei in Manchester und überlegt, ob er nicht einfach nach Hause fahren soll. Er weiß, dass sich die Neuigkeit inzwischen herumgesprochen haben wird. Vielleicht hat man ihn bereits im Stillen degradiert, und er muss sich künftig mit Immobilienangelegenheiten oder banalen Kontroversen begnügen. »Scheiße«, sagt er zu seinem Spiegelbild im Rückspiegel. »Früher oder später muss ich ja doch rein.«
    Er steigt die seltsam verlassene Treppe hinauf und betritt die menschenleere Lobby. Normalerweise, verdammt, immer, wenn er nach einem Prozess zurückkommt, wird er von einer Schar Reporter erwartet, die auf einen geistreichen Kommentar von ihm warten darüber, wie leicht der Sieg war. Heute grüßt ihn nicht einmal der Wachmann neben dem Fahrstuhl, und er deutet das als Vorbote dessen, was ihn oben erwartet.
    »Mr. Metz«, sagt die Empfangsdame, als er durch die Doppel-Glastüren tritt. »Newsweek, die New York Times und Barbara Walters haben Nachrichten für Sie hinterlassen.« Metz stutzt. Ist es üblich, dass sie auch mit den Verlierern sprechen?
    »Danke.« Er nickt seinen Partnern zu und bemüht sich dabei, den Eindruck zu erwecken, er sei ganz in Gedanken vertieft. Seine eigene Sekretärin ignoriert er völlig und zieht sich in sein Eckbüro zurück wie ein verwundeter Löwe, um seine Wunden zu lecken. Er schließt die Tür hinter sich ab, etwas, das er sonst nie tut. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch und lässt den Kopf auf die Arme sinken.
    Ma nisch-tah-naw ha-lie-law ha-zeh me-call ha-lay-los. Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte des Jahres?
    Metz blinzelt. Das sind Worte aus dem Seder, Worte, die er gesprochen hat, als er in Faith’ Alter war, der jüngste jüdische Junge in seiner Familie. Worte, die er bis zu diesem Moment völlig vergessen hatte.
     
    Meiner Mutter fällt es als Erstes auf. »Warum habe ich nur gedacht, sie würden alle verschwunden sein?«
    Ich bringe den Wagen vor unserer Zufahrt zum Stehen. Faith ist zurück, sie ist gesund, und das ist ein neuer Anfang. Aber die Fans, die Presse und die Sektenmitglieder sind noch da, ja ihre Zahl ist sogar gewachsen. Polizei ist weit und breit keine zu sehen, sodass niemand da ist, der uns hilft, den Weg bis zum Haus freizumachen. Während ich mit Schrittgeschwindigkeit über den Kiesweg fahre, strecken die Umstehenden die Hände nach dem Wagen aus, lassen die Finger über das Blech gleiten und klopfen leicht an Faith’ Scheibe.
    »Halt an«, sagt Faith ruhig aus dem Fond.
    »Was? Ist etwas passiert?«
    Als der Wagen zum Stehen kommt, springen Menschen auf die Motorhaube. Sie klopfen an die Windschutzscheibe. Sie kratzen am Lack in ihrem Bemühen, zu ihr vorzudringen. »Ich gehe zu Fuß«, sagt Faith.
    Meine Mutter greift ein. »Das wirst du nicht, junge Dame. Diese Meschuggenahs werden dich niedertrampeln, ehe sie wissen, was sie tun.« Aber bevor meine Mutter oder ich sie aufhalten können, öffnet Faith die Tür und taucht in der Menge unter.
    Ich gerate sofort in Panik. Mit fliegender Hast löse ich meinen Gurt, springe aus dem Wagen und bahne mir gewaltsam einen Weg durch die Menge, um Faith zu retten. Ich mache mir jetzt größere Sorgen um sie als am Wochenende im Krankenhaus, weil diese Menschen hier sich nicht für ihr
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