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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde
Autoren: Jodi Picoult
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fühle seine Hände auf meinem Rücken, und sein Atem streicht über die Härchen in meinem Nacken. Er ist bei mir. Und im Augenblick ist mir das genug. »Mariah«, sagt er leise, »möglicherweise bist du meine Religion.«
     
    Der Richter ruft die Prozesspflegerin in den Zeugenstand. »Die Anwälte und ich haben Ihren Bericht gelesen. Möchten Sie dem noch etwas hinzufügen?«
    Kenzie nickt knapp. »Das möchte ich. Ich denke, das Gericht sollte wissen, dass ich es war, die Mariah White Sonntagnacht um zwei Uhr ins Medical Center gerufen hat.«
    Metz klappt die Kinnlade herunter; Joan blickt auf ihren Schoß. Der Richter fordert Kenzie auf, ihr Verhalten zu erläutern.
    »Euer Ehren, ich weiß, dass Sie mich wegen Missachtung des Gerichts einsperren lassen können, aber bevor Sie das tun, möchte ich, dass Sie mich anhören, weil ich das Kind, um das es hier geht, nämlich ins Herz geschlossen habe und einen schwerwiegenden Fehler vermeiden möchte.«
    Der Richter mustert sie streng. »Fahren Sie fort.«
    »Wie Sie wissen, habe ich einen Bericht verfasst. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen und bin ursprünglich zu dem Schluss gekommen, wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass das Leben des Kindes in Gefahr ist, es das Beste wäre, Faith aus der Gefahrenzone zu entfernen. Darum habe ich in meinem Bericht auch empfohlen, das Sorgerecht dem Vater zu übertragen.«
    Metz klopft seinem Mandanten grinsend auf die Schulter.
    »Allerdings habe ich diese Entscheidung am späten Samstagabend gefällt, nachdem ein Arzt Mrs. Epstein gesagt hatte, dass Faith die Nacht möglicherweise nicht überleben würde. Ich war der Ansicht, dass das Rechtssystem der Vereinigten Staaten nicht das Recht hat, eine Mutter davon abzuhalten, von ihrem sterbenden Kind Abschied zu nehmen. Ich hielt das nur für eine nette Geste, Euer Ehren… und ich hätte nicht erwartet, dass es sich in irgendeiner Weise auf meinen Bericht auswirken könnte.
    Aber dann geschah etwas.« Kenzie schüttelt den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte es erklären, wirklich. Ich weiß nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, und zwar ein Kind, dessen Leben am seidenen Faden hängt und das beim Eintreffen seiner Mutter völlig unerwartet aus dem Koma erwacht.« Sie zögert. »Ein Gerichtssaal ist kaum der richtige Ort für persönliche Anekdoten, Euer Ehren, aber ich möchte Ihnen trotzdem eine Geschichte erzählen, die mich in dieser Sache stark beeinflusst hat. Meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater waren zweiundsechzig Jahre verheiratet. Als mein Urgroßvater an einem Schlaganfall verstarb, folgte meine Urgroßmutter, die sich bester Gesundheit erfreute, ihm zwei Tage später nach. In meiner Familie hat es immer geheißen, Nana sei an gebrochenem Herzen gestorben. Das mag zwar medizinisch nicht korrekt sein … aber Ärzte befassen sich ja auch mit den Körpern und nicht mit den Emotionen ihrer Patienten. Und wenn es möglich ist, vor Trauer zu sterben, Richter Rothbottam, warum um alles in der Welt sollte es dann nicht möglich sein, vor Glück zu genesen?«
    Kenzie lehnt sich auf ihrem Stuhl vor. »Euer Ehren, ich habe vor zehn Jahren den Anwaltsberuf an den Nagel gehängt und bin Prozesspflegerin geworden. Ich bin in einer Juristenfamilie großgeworden und achte das Gesetz. Außerdem bin ich ein rational denkender Mensch, aber dieser Fall entzieht sich nun einmal jeder rationalen und logischen Annäherung. Verschiedene Leute haben mir von Visionen, weinenden Statuen und der Passion Christi erzählt. Andere sprachen von religiösem Betrug. Ich habe von Menschen gehört, die krank waren und urplötzlich genesen sind, nachdem sie Faith im Fahrstuhl oder auf dem Flur berührt haben.
    Ich habe in letzter Zeit viel Unerklärliches erlebt, aber nichts davon deutet auch nur im Entferntesten darauf hin, dass Mariah White Faith in irgendeiner Weise schaden würde. Tatsächlich glaube ich vielmehr, dass sie ihr das Leben gerettet hat. Und wir tun dem kleinen Mädchen sicher keinen Gefallen, wenn wir es dem Einflussbereich seiner Mutter entziehen.« Sie räuspert sich. »Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren, aber ich möchte meine vorausgegangene Empfehlung revidieren.«
    Im Gerichtssaal bricht Unruhe aus. Malcolm Metz flüstert hitzig Colin zu. Der Richter fährt sich mit einer Hand über das Gesicht.
    »Euer Ehren«, sagt Metz und erhebt sich. »Ich möchte ein Schlussplädoyer halten.«
    »Wissen Sie, Mr. Metz, das habe ich mir fast gedacht.«
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